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Archiv-Artikel

Von hegelscher Breite

VON WANG GE

Im April 2001 besuchte Jürgen Habermas zum ersten und bisher einzigen Mal China. In Peking sprach man von einem „philosophischen Ereignis“. Die Initiative für den Besuch ging auf die 80er-Jahre zurück, doch nach der Studentenrevolte im Jahr 1989 zögerte Habermas aus Sorge vor einer falschen Vereinnahmung lange Zeit, die Reise nach Peking anzutreten. Als er es dann doch tat, übertraf das Interesse alle Erwartungen. Habermas füllte die Audimaxe der größten Pekinger Universitäten, sprach gleich zu sieben akademischen Institutionen und ließ dabei auch die Zentrale Parteiakademie nicht aus, wo die KP Chinas ihre hochrangigen Kader schult. Das Aufsehen um den prominentesten lebenden Vertreter der Frankfurter Schule durfte in China aber eigentlich niemand überraschen. Sein Werk ist bis heute Forschungsgegenstand der Fachrichtung Marxismus an den meisten chinesischen Universitäten. Wer in China ein bisschen was von Marxismus versteht, und das sind immer noch viele, kennt auch Habermas.

Die Diskussion um Habermas in China erstarrte jedoch nie in ideologischen Dogmen. Bei seinem Besuch erwarteten viele chinesische Gelehrte eine ebenso grundsätzliche wie konstruktive Kritik am chinesischen System. Andere aber zweifelten an Rezepten von außen und erklärten die Erwartungen für zu optimistisch, weil sie Habermas ein ausreichendes Vorwissen über das Ethos, die Geschichte und die Realität Chinas absprachen. Der legitime Streit zeigte, wie wichtig man Habermas nahm.

Bis zum April 2001 waren zehn Monografien von Habermas ins Chinesische übersetzt worden. Kaum ein anderer lebender Philosoph genießt in China eine solch intensive Übersetzung und Verbreitung. Schon 1993 führte man den Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriff in die chinesische Diskussion ein, um die Feudalisierung der parteigelenkten Massenmedien zu kritisieren. Später wurde Habermas’ Moderne als ein unvollendetes Projekt von chinesischen Intellektuellen gegen die Postmoderne thematisiert, weil sich die Analysen der Postmoderne überhaupt nicht auf China übertragen ließen.

Als dann Habermas’ berühmter Aufsatz über den Kosovo-Krieg (Die Zeit, April 1999) noch im selben Jahr in China volltextlich veröffentlicht wurde, stand er eine Zeit lang im Mittelpunkt der chinesischen Intellektuellendebatte. Ein bekannter chinesischer Philosoph zog einen symbolischen Bindestrich zwischen Habermas und Imperialismus, um seine tiefe Enttäuschung auszudrücken. Andere aber erkannten in dem Aufsatz Habermas’ gedankliche Kontinuität und lobten seine Äußerung als weltpolitisch verantwortlich. Diese Auseinandersetzung setzte sich in den Debatten zwischen der neuen Linke und den Liberalen fort, die die Pekinger Reformdiskussion bis heute prägt. Die Liberalen saugen die Gedankenressourcen von Habermas komplett auf und plädieren für die universalistischen Werte wie Menschenrechte und Demokratie. Hingegen hält sich die neue Linke vor allem an den Öffentlichkeitsbegriff des jungen Habermas. Sie trachtet die blinden Flecken im kommunikativen Handeln mit Habermas aufzufinden und ihn zu kontextualisieren. Wo die Liberalen seine normativen Inhalte hochhalten, hebt die neue Linke seine geschichtlichen Momente hervor.

Trotz der in China unüberhörbaren Kritik am Universalismus, Eklektizismus und Eurozentrismus von Habermas, bewundern alle seine chinesischen Leser die hegelsche Breite und Systematik seines Werks. Sie erst fordert die breite Rezeption seiner Ideen in einer anderen Kultur wie China heraus. Für mich persönlich aber hat auch das Deliberative bei Habermas einen großen Reiz: Er hat seine Polemik nie abgeschwächt. Wie ein Feldfotograf, der im Nu das Wesentliche im Bild aufnimmt, konfrontiert uns Habermas mit der Vielfalt der Realität. Dabei kommt er immer wieder zu Einsichten, die uns zum Umdenken und neuem Handeln ermutigen – auch und gerade in China.

WANG GE, 34, ist chinesische Hegel-Übersetzerin von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking