: Kartoffeln und andere Aufreger
VON BETTINA GAUS
„Sind Sie irgendwie Abgeordneter?“ – „Ich bin Ihr Umweltminister.“ – „Umweltminister sind Sie? Wie ist denn Ihr Name?“ – „Müller.“ – „Ach, der Müller. Alles Müller, oder was?“ Der selbstbewusste, kontaktfreudige Rentner, der am Stand der Grünen vor dem Rathaus in Norderstedt stehen geblieben ist, lacht herzlich, und der Umweltminister lacht mit.
Falls Klaus Müller diesen Witz schon einmal gehört haben sollte, dann lässt er sich das nicht anmerken. Schließlich steht er nicht zum Vergnügen hier im kalten Nieselregen. Er tritt als Werbeträger auf: für die Partei, für die Politik der rot-grünen Landesregierung in Kiel und natürlich auch für sich selbst. Wer sich den Glauben an Glanz und Luxus eines Politikerlebens bewahren will, darf nicht zu genau hinschauen. Schon gar nicht im Wahlkampf. Und ganz gewiss nicht in einem Winterwahlkampf, in dem es unter anderem gilt, sich gegen die Widrigkeiten der Natur zu behaupten. Es sieht nicht schlecht aus für die Grünen in Schleswig-Holstein. Bei rund sieben Prozent liegen sie in den jüngsten Umfragen, und vermutlich erzielen sie am Sonntag ein besseres Ergebnis als die FDP, die in diesem Flächenstaat eigentlich traditionell stärker ist. Vor ein paar Monaten bescheinigten die Meinungsforscher den Grünen sogar, dass sie zehn Prozent der Stimmen bekommen könnten.
Darüber konnten sich die Parteistrategen aber damals nicht so recht freuen, denn die SPD war seinerzeit auf dem Tiefpunkt der Wählergunst angelangt, und kaum jemand glaubte noch an einen Sieg der rot-grünen Landesregierung. Derzeit ist der Trend jedoch wieder mal Genosse. Die demoskopischen Leihstimmen der Grünen vom letzten Herbst sind zu den Sozialdemokraten zurückgewandert, der gemeinsame Vorsprung der Koalition ist komfortabel. Und die Stimmung ist relativ entspannt.
Der Rentner in Norderstedt wird die Grünen wohl trotzdem nicht wählen. Auch deshalb, weil er auf Außenminister Joschka Fischer böse ist. Dem hat er persönlich einen Brief geschrieben, und die Antwort kam nur von einem „aus der achten Reihe“. Dass der Minister nicht selbst zum Schreiben gekommen ist, mag ja gerade noch verständlich sein. Aber „wenigstens seine rechte Hand“ müsste auf Anregungen aus der Bevölkerung doch reagieren. Das könne man wohl verlangen. „Doch nicht achte Reihe!“ Jetzt weiß Klaus Müller nicht so recht, wie er gucken soll. Wähler und Gewählte leben in Welten, die sehr, sehr weit voneinander entfernt sind.
War da in diesen Tagen nicht noch etwas mit Fischer? Visa-Affäre und so? Danach werden die Grünen im Wahlkampf nicht einmal gefragt. Was einige von ihnen durchaus überrascht. Aber nicht jedes Thema, das politische Profis spannend finden, interessiert auch die Bevölkerung. Aggressionen schlagen dem Umweltminister am Stand in Norderstedt nicht entgegen. Er stößt vielmehr auf Desinteresse. Klaus Müller bietet Passanten kleine Säckchen an, in denen eine Linda-Kartoffel steckt. Auf dem Markt wird es die beliebte Knolle vielleicht bald nicht mehr geben, denn die Firma Europlant hat die Zulassung dafür zurückgezogen, um neue Sorten besser vermarkten zu können. „Das weiß hier jeder, und da sind wir mitten drin in der Diskussion über Sortenrecht“, sagt Müller.
Möglich. Aber mit einer einzelnen Kartoffel kann niemand etwas anfangen, und die Frauen, die das Wahlgeschenk nach einem kurzen, irritierten Blick ablehnen, tun das nicht einmal unfreundlich. Sondern etwa so, wie man einen Schlepper vor einer Bar abwehrt, wenn man gerade auf dem Weg zur Nachtschicht ist. Also anderes im Kopf hat. Die Arbeitslosenquote in Schleswig-Holstein liegt bei 12,7 Prozent – höher als der Bundesdurchschnitt. Auch der Schuldenstand des Landes ist eindrucksvoll hoch. Im Wahlkampf spielen beide Themen eine allenfalls untergeordnete Rolle. Der Handlungsspielraum eines Bundeslandes, auch der finanzielle, ist gering. Die Leute scheinen zu wissen, dass nicht der Ausgang der Landtagswahlen über die Angelegenheiten entscheiden wird, die ihnen wirklich auf den Nägeln brennen.
Worum geht es dann? Um Bildung, sagen die Grünen, die dazu unter dem Stichwort „Gemeinschaftsschule“ ein neues Konzept vorgestellt haben, das Chancengleichheit bis nach der neunten Klasse garantieren soll. Das Schulsystem sei die „zentrale Frage im Wahlkampf,“ meint der Fraktionsvorsitzende Karl-Martin Hentschel.
Ähnlich sieht das Klaus Müller: „Im Wahlkampf gibt es nur ein Thema, was die Menschen bewegt, und das ist die Bildungspolitik.“ Es gebe Themen, „von denen die Parteien wollen, dass die Leute darüber nachdenken: wir über regenerative Energien, die CDU über Verschuldung, die SPD über Heide Simonis“. Aber auch das, was die Parteien wünschten, sei eben nicht zwangsläufig das, was die Leute bewege.
Die Sozialdemokraten werben – offenbar recht erfolgreich – mit ihrer Ministerpräsidentin. Seit ein paar Tagen mit einem roten Plakat, auf dem nur noch der Name „Heide“ steht. Und auf dem das „i“ des Namens durch ein Ausrufezeichen ersetzt ist. Den kleineren Parteien macht es ein so prononcierter Personenwahlkampf schwer, eigenes Profil zu entwickeln. Aber es geht ja im Wahlkampf – ohnehin – angeblich vor allem um Bildung. Justizministerin Anne Lütkes ist in das Eliteinternat Louisenlund gefahren, um dort für das Zukunftskonzept ihrer Partei zu werben. „Jugend, hier ist Ihre Frau Ministerin – Frau Ministerin, die Jugend.“ So hatte der Moderator die Diskussion eingeleitet. Nett, dass er das noch einmal ausdrücklich erwähnt hat. Vorhin, als einige Jugendliche zitternd vor Kälte im Freien eine letzte Zigarette vor der Veranstaltung geraucht hatten – Stichwort: rauchfreie Schule –, da war das noch nicht allen so klar gewesen.
„Wer kommt heute Abend eigentlich?“ Die Bildungsministerin? Die Justizministerin? Irgendeine andere Ministerin? Dem Jungen, der diese Frage stellt, ist das offenbar ziemlich gleichgültig. Die Schülerinnen und Schüler der 12. Jahrgangsstufe sind ohnehin verpflichtet worden, an der Veranstaltung teilzunehmen, und sie mussten sich ihre Beteiligung durch einen Lehrer bescheinigen lassen. Da kommt es dann nicht so drauf an, wer da eigentlich redet. Es gilt, die Regeln zu befolgen.
Was heißt: das Plenum, dessen Mitglieder überwiegend aus sehr, sehr gutem und sehr, sehr wohlhabendem Hause stammen, applaudiert brav und offenbar pädagogischer Anweisung folgend nach jeder Antwort von Anne Lütkes – und lässt dennoch zugleich durchblicken, dass der Gedanke der Chancengleichheit nicht im Mittelpunkt des eigenen Weltbildes steht. Die Ministerin versucht, das Modell der „Gemeinschaftsschule“ als „faszinierend“ anzupreisen.
„Das heißt doch nur wieder, dass Leistung nicht mehr zählt und die Schwächsten, vor allem die Ausländer, das Tempo bestimmen“, sagt ein Junge nach der Veranstaltung zu einem Freund. Bevor er ihm erklärt, weshalb Chemie als Unterrichtsfach völlig sinnfrei sei, dass er das nie wieder brauchen werde und wie froh er deshalb sei, dass er das demnächst abwählen könne.
Wie breit ist der Graben zwischen diesem Schüler und dem 18-jährigen Christopher Röhl aus Kiel? Er ist den Grünen vor zwei Jahren beigetreten: „Ich bin einfach ein unverbesserlicher Weltverbesserer.“ Mit dieser Haltung scheint er an diesem Abend relativ allein dazustehen. Drei Interessierte sind zu einer Veranstaltung der grünen Landesarbeitsgemeinschaft „Immergrün“ gekommen, die 2004 gegründet worden ist und es sich zum Ziel gesetzt hat, „alle Politikfelder unter dem demografischen Faktor zu betrachten“.
Wie die 62-jährige Gisela Schulz erklärt. Sie hat einst die Grünen mitbegründet und wirkt nun verständlicherweise enttäuscht über die geringe Resonanz auf die geplante Diskussion. Vielleicht gebe es einfach „zu viele Veranstaltungen“. Die Leute wollten auch nicht „tagtäglich neue politische Aktionen“.
Offenbar nicht. Christopher Röhl schätzt, dass etwa die Hälfte seines Bekanntenkreises gar nicht erst zur Wahl gehen wird. Was er zu hören bekommt: „Die machen doch sowieso nichts für uns, die wollen nur ihre Diäten und das Volk ist ihnen scheißegal.“ Sich dem demokratischen System zu verweigern, gilt inzwischen nicht mehr als anrüchig. Mögen sich die demoskopischen Daten auch innerhalb der Norm bewegen: eine Distanz zum herrschenden System kennzeichnet inzwischen nicht mehr den Außenseiter. Sondern den Mainstream.
Nein, nichts von dem, was eine etablierte Partei in Schleswig-Holstein tut, scheint Aggressionen hervorrufen zu können. Kein Wahlstand, keine provokante Diskussion im – vergleichsweise – kleinen Kreis, keine Massenkundgebung, die keine ist. Für 80 mögliche Teilnehmer hatten die Grünen, bescheiden genug, Stühle für eine Veranstaltung gegen den Rechtsextremismus aufgestellt, bei der neben anderen ein Zugpferd in Gestalt der Bundesvorsitzenden Claudia Roth sprechen sollte. Etwa 50 Interessierte waren um 20 Uhr gekommen. Sie hörten der Debatte zu. Und sie wussten – erkennbar – bereits vorher, worüber geredet werden würde. Politik wird halt immer berechenbarer, egal, wer auftritt.
Oder doch nicht? Er sei „super genervt von dieser Perspektivlosigkeit, die um sich greift“, sagt der 35-jährige Robert Habeck, seit einigen Wochen neuer Landesvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein, in einem Café an der Kieler Förde. Der Schriftsteller findet „die Zeit reif“, sich zu engagieren: in persönlicher wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Im Wahlkampf beobachte er „keinen Zorn, sondern Lethargie“. Dabei sei es doch „ganz leicht, Leute zu politisieren“. Die Erfahrung habe er gemacht, als er um Mitstreiter warb, die bereit waren, sich an einer Wählerinitiative zu beteiligen und Werbepostkarten für Rot-Grün in die Briefkästen zu werden.
Christopher Röhl und Robert Habeck: die Avantgarde einer neuen Bereitschaft, sich politisch zu engagieren? Oder liebenswert altmodische Außenseiter? Man wird sehen. Wahrscheinlich ist am Sonntag die Höhe der Wahlbeteiligung das interessante Ergebnis.