Tagebuch zum Mauerbau

KARL-HEINZ KURRAS Aus den Notizen eines Spitzels der Staatssicherheit der DDR

„Die Hundertschaften haben erst ab 15. 8. Verpflegung erhalten und sind in mieser Stimmung“

Es ist der 17. August. Treffpunkt Telefonzelle am Dönhoffplatz, 19 Uhr. Der geheime Mitarbeiter Otto Bohl berichtet: Auf den Berliner S-Bahnhöfen stehe plötzlich eine Vielzahl von Zivilisten herum – es sind sogenannte Hilfswillige, erklärt der Informant, sie haben sich Plakate um den Hals gehängt, auf denen steht: „Wer mit der S-Bahn fährt, ist ein Verräter“.

In der geteilten Stadt herrscht der Ausnahmezustand – vier Tage ist es gerade mal her, dass der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat am 13. August 1961 seine Grenze dichtgemacht und den antifaschistischen Schutzwall errichtet hat.

In einer eher hilflosen Reaktion droht im Gegenzug der Senat in Westberlin, neben der von Ostberlin betriebenen S-Bahn auch die noch verbliebenen Parteilokale der SED im Westteil der Stadt zu schließen.

„Die Vermutung wurde ausgesprochen“, teilt Otto Bohl seinem Führungsoffizier Oberstleutnant Eckert mit, „dass es Ende der Woche zum Alarm kommen wird, um die Kripo bei der Schließung der S-Bahnhöfe und der SED-Parteilokale einzusetzen“.

„Auf der Inspektion Tiergarten herrscht eine starke Unruhe“, sagt der Informant beim Treff: „Auf allen Revieren ist immer noch Großalarm. Die Hundertschaften haben erst ab 15. 8. regelmäßige Verpflegung erhalten und sind daher in mieser Stimmung. Von der Bevölkerung werden umfassende Angstkäufe an Zucker und Mehl gemacht.“

In eigener Sache bedauert der geheime Mitarbeiter, der im wahren Leben Karl-Heinz Kurras heißt: „Der Schießstand in Wannsee ist für den Sportverkehr geschlossen, auch für den Polizeischießverein.“ Karl-Heinz Kurras, der Jahre später als der Mann, der die Todesschüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg abgab, Geschichte schreibt, wird wie sein Führungsoffizier vom Mauerbau kalt erwischt.

„Durch die Sperrung der Grenze nach West-Berlin war an den Straßenübergängen für ‚Bohl‘ keine Übergangsmöglichkeit“, notiert Stasi-Mann Eckert in einem Vermerk. Da die Übergangsstellen zum „demokratischen Berlin“ von jetzt an von den Westberliner Polizeibehörden und den Westalliierten überwacht werden, kommen weitere Treffs mit Bohl im Osten Berlins nicht mehr infrage; schließlich ist Kurras Polizist im Westen und könnte auffliegen.

Doch die Stasi weiß Rat. Die Geheime Hauptinformatorin „Lotte Schwarz“, Überlebende des Konzentrationslagers Sachsenhausen und Besitzerin eines westdeutschen Reisepasses, wird rekrutiert. Sie kann den klandestinen Kontakt zu „Bohl“ aufrechterhalten.

„Lotte Schwarz“ ist es auch, die später gemeinsam mit dem MfS-Mann Eckert im Parteiaufnahmeverfahren der SED für den Kandidaten Kurras bürgen wird. WOLFGANG GAST