Feen und coole Klageweiber

URMOTIVE DES POP Marissa Nadler, Rose Kemp oder Alela Diane – wie „authentisch“ sind die neuen Fräuleinwunder der Popmusik?

„Warum Selbstmord begehen, wenn man dieses Album kaufen kann?“, warb 1974 schon die Plattenfirma für Nicos viertes Soloalbum

VON CAROLINE VON LOWTZOW

Alles begann in einer Badewanne. Vor fünf Jahren schwappte aus dieser Wanne ein märchenhafter Klang in die Welt. Er wurde von Feen und Einhörnern in die Welt getragen und kündete von der wundersamen Geschichte zweier Schwestern, die im Kindesalter getrennt worden und nun endlich wieder vereint waren. Zur Feier ihrer wiedergewonnenen Ganzheit schlossen sich Sierra und Bianca Casady kurzerhand in ein Pariser Badezimmer ein und erschufen aus dem Nichts eine himmlische Mischung aus Kinderzimmer, Oper und durchgeknallter Folkmusik. „Es war für uns beide, als ob eine Tür geöffnet würde, durch die wir endlich ins Freie konnten.“ So geht die Geschichte der Schwestern-Band CocoRosie. Es ist aber auch die Geschichte einer neuen Generation von Singer-Songwriterinnen, eine Geschichte von Klageweibern, Schamanen-Sängerinnen, weltabgewandter Folk-Feen und Antipopgöttinnen, die ihre eigene Version von Folk etablieren und dem Genre des Singer-Songwritertums auch in diesem Jahr zu einem nicht enden wollenden Boom verhelfen.

Das Authentische und das Düstere sind Urmotive der Popmusik. Authentisch ist, wer glaubwürdig, ehrlich oder bodenständig ist. Authentische Künstler planen ihre Erfolge deshalb auch nicht – Erfolge kommen vielmehr über sie. Die Schwestern CocoRosie hatten angeblich niemals vor, ihre Badewannen-Recordings zu veröffentlichen. Angeblich nur durch Zufall wurden sie zu einer der Platten des Jahres 2004.

Feinde des Mainstream

Das Unechte und die aufgesetzten Gefühle sind die Feinde und sind vor allem im Mainstream, in der Industrie zu finden. Da, wo das Geld ist. Kommen das Authentische und das Düstere in einer Person zusammen, steht einer späteren Ikonisierung nichts mehr im Weg – ein früher Tod vorausgesetzt. Kurt Cobain war so eine Figur, Jim Morrison natürlich, Janis Joplin oder die Bluessängerin Bessie Smith. Nur der an sich selbst leidende Künstler ist ein wahrer Künstler, sagt der Authentizitätsglaube.

Die 28-jährige US-Amerikanerin Marissa Nadler pflegt dies besonders. Auf ihrem im Februar erschienenen Album „Little Hells“ singt Nadler über das Unglück junger Mädchen, die Lasten des Lebens, den Leichenzug einer Trauergemeinde und den Tod: „Du warst tot und ich war tot und alle Blumen um uns herum waren tot“, heißt es im ersten Song „Heart Paper Lovers“.

Auf früheren Platten besang Nadler die Selbstmorde von Virginia Woolf und Sylvia Plath. Ihre Homepage schmückt ein Gemälde von Katy Horan: Gespenster, Baumskelette, mystische Frauenfiguren, rituelle Naturbeschwörung und Totenköpfe, ganz wie in Nadlers Musik. Edgar Allan Poe und die dunkle American Gothic lassen grüßen. Nadlers Stimme schwebt über elektronischem Theremin, Akustikgitarre und Hammondorgel. Man würde ihrer Stimme ohne Zögern in die Unterwelt folgen. Die Musik klingt wie ein ätherischer Hall aus dem Jenseits.

Bei der britischen Singer-Songwriterin Rose Kemp hat dieses Jenseits ganz und gar nichts Zartes. Es ist ein Dröhnen, Grollen und Zetern. Auf ihrer Myspace-Seite flackert ein Friedhof auf und das Cover ihrer im letzten Herbst erschienenen Platte „The Unholy Majesty“ erinnert an Tim Burtons „Sleepy Hollow“: eine Elster im Vordergrund, der Blut vom Schnabel tropft, im Hintergrund eine Kappelle. Schon als Kind ist Rose gemeinsam mit ihren Eltern aufgetreten, Pionieren der britischen Folkmusik, die bei „Steeleye Span“ spielten.

Seit sie zwölf Jahre alt ist, schreibt Rose Songs und hat schon diverse Nebenprojekte gegründet wie die italienische Doom-Metal-Band Ufomammut. Ihre Liebe zu Heavy Metal und Doom, einem sehr langsamen, besonders düsteren Subgenre von Metal, ist auf „Unholy Majesty“ zu hören. Ein vertonter Albtraum.

Die Karrieren dieser Fräuleinwunder werden zumeist ähnlich erzählt: Es ist die alte Geschichte vom Originalgenie, das aus sich selbst heraus große Kunst erschafft. Das gar nicht anders kann, als Kunst zu machen, und dabei ganz bei sich ist. Zuletzt wurde diese Geschichte am Beispiel der jungen österreichischen Sängerin Soap&Skin ausführlichst erzählt.

Sie wolle in ihrer Musik menschliche Abgründe zu Ende denken, sagt auch die Schwedin Karin Dreijer-Andersson, die vor drei Jahren gemeinsam mit ihrem Bruder unter dem Bandnamen The Knife berühmt wurde. Nun hat sie ihr erstes Soloalbum vorgelegt, „Fever Ray“ – elektronische Musik wie aus einem Fiebertraum, langsam und düster.

Gemarterte Sängerinnen

Sie sagt, die meisten ihrer Songs seien in einem Schattenreich zu Hause, zwischen Schlafen und Wachen. „This will never end, I want more, give me more, give me more“, sind die ersten Worte dieses Albums, die sich wie eine Umkehrung von Edgar Allan Poes Gedicht „The Raven“ lesen. Unterkühlt und gefühlvoll, ein eleganter Dauerfrost aus Einsamkeit und wohliger Hoffnungslosigkeit – Erlösung ausgeschlossen. „Fever Ray“ hat das Zeug zur neuen Antipopgöttin.

Und eine solche wird momentan wohl dringend gebraucht. Die wahlweise feenhaft oder düsteren Klageweiber des Pop haben Konjunktur. Ihrer Zahl sind viele und alle haben sie die gleichen Vorbilder: Björk, PJ Harvey, Cat Power und immer wieder Nico, die deutsche Chanteuse von Velvet Underground.

„Warum Selbstmord begehen, wenn man dieses Album kaufen kann?“ Mit diesem launigen Slogan bewarb die Plattenfirma Island Records 1974 Nicos viertes Soloalbum „The End“. Der Werbespruch zeigt eines der Erfolgsgeheimnisse der gemarterten Sängerinnen. Wenn wir ihre Alben hören, können wir über Wohlstandsbäuche hinweg gefahrlos in den Abgrund schauen und Verzweiflung kosten. Fallen werden immer nur die anderen.

Genau dafür liebt das Feuilleton die Klageweiber des Pop. Man sehnt sich nach dem Monster in der Künstlerin, nach Musikerinnen, die nicht von Castingshows gemacht werden, sondern zum Künstlersein geboren sind und durch Kunst etwas von sich selbst preisgeben. „Echte“ Kunst soll nicht Marketinghirnen, sondern allein der Fantasie entsprungen sein.

Einer Fantasie, die sich als Gegenentwurf zum exhibitionistischen Dauerlächeln des Mainstreams und seinen Millionen Lady Gagas in eine Welt voller Zauberfeen, mystischer Gestalten und traumatisierter Seelen zurückzieht. Ernsthaftigkeit, Bedeutung und Tiefe kann es in der Gesellschaft des Spektakels für die Klageweiber nur durch die Flucht in die Innerlichkeit geben.

Oder zurück in die Natur und die Welt der Vorfahren, wie uns die 26-jährige Alela Diane auf ihrem neuen Album „To be still“ demonstriert. Mit dem Freak-Folk der Schwestern CocoRosie hat Alela Diane wenig gemein. Vielmehr bedient sie sich am klassischen Instrumentarium der Bluegrassmusik: wenig verspielte Songs mit Fiddle, Banjo, Mandoline und Gitarre. Ihre Musik klingt, als sei sie völlig im Reinen mit sich, kein Zweifel nirgends.

Ihre Texte handeln von goldenen Bergrücken und Wäldern, von den Vorfahren, die ihr Worte zuflüstern, während sie mit einem Freund Blattskelette sammelt, oder von den Erlen, die Songs aus längst vergangenen Zeiten lauschen. „Take us back“, diesen Songtitel ihres neuen Albums kann man durchaus programmatisch lesen.

Konstrukte desselben Diskurses

Wenn Alela Diane nicht auf Tour ist, lebt sie sehr zurückgezogen – ohne Internet, ohne Fernsehen und ohne Handy. „Diane wirkt als Anti-Entfremdungsgift fürs entwurzelte postmoderne Subjekt“, schrieb die Musikzeitschrift Spex. Ihre Musik sei eine Verheißung – für ein Leben im Einklang mit Natur, Tradition, Familie und sich selbst. Aber kann es das wirklich geben?

Die Lady Gagas und R&B-Aerobic-Springmäuse des Mainstream werden so als Trash abgetan und die neuen Fräuleinwunder für ihre vermeintliche Ehrlichkeit und Echtheit gefeiert.

Aber repräsentieren die Sängerinnen, die sich auf ihr Originalgenie und die Natur berufen, wirklich mehr als eine Werbemasche? Die Liste der Singer-Songwriterinnen ließe sich endlos erweitern, die so bei der Masse immer größere Erfolge feiern. Cat Power, Katie Melua, Amy Macdonald…

Sind die Modelle Lady Gaga und Alela Diane also nicht letztlich Konstrukte desselben Diskurses und der Musikindustrie? Mit dem Unterschied, dass die vermeintlich böse Seite die Narben ihrer Schönheitsoperationen zeigt und nicht weißmachen will, diese seien erster Natur.

Der alte Streit von Schein und Sein, am Ende ist’s nur einer ums Marketing?

■ Marissa Nadler, „Little Hells“ (Kemando Records/Rough Trade); Rose Kemp, „Unholy Majesty“ (One Little Indian/Rough Trade); Fever Ray, „Fever Ray“ (Rabid/Cooperative Music); Alela Diane, „To be still“ (Fargo Records/Rough Trade)