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Archiv-Artikel

Ein Leben auf Wiedervorlage

SPRACHKÖRPER Einer, dem nichts Geringeres aufgegeben war, als wütend und leidend zu sagen, was er leidet: Zum nun abgeschlossenen großen Tagebuchprojekt des Theatermachers und Schriftstellers Einar Schleef

Das Wasser ist der Ort, der Zustand, in dem er einzig noch Ruhe findet vorm Andrängen der Gedanken und Tage. Er lebt für das Wasser und geht zugleich ins Wasser wie in den Tod

VON EKKEHARD KNÖRER

Im Juni des Jahres 2000, gut ein Jahr vor seinem Tod, hielt Einar Schleef einen Vortrag, offiziell seine Antrittsvorlesung, an der Berliner Hochschule der Künste. Der Raum war voll, Schleef aufgeregt, der Titel lautete „Stottern und Sprechen. Nackt und Angezogen“ und angezogen stotterte erst und sprach dann, wie Berichte bezeugen, Schleef in einer an- und abschwellenden, von Schreien durchsetzten Suada über die Tragödie und das Theater, die letzten Dinge seiner Welt. Man konnte einen ähnlichen Auftritt, gleichzeitig, auch auf der Bühne erleben, denn in seiner letzten Inszenierung „Verratenes Volk“ trat Schleef am Deutschen Theater selbst auf, Hacken zusammen, in Hemd und Frack, und sprach, deklamierte, skandierte, die Hand dazu schlagend und schüttelnd, in eisernem Rhythmus das „Ecce Homo“ des Friedrich Nietzsche.

Im Stottern werden Sprache und Körper, unter Qualen meist, eins. Und darum wird auch das Überwinden des Stotterns im Sprechen, im Schlagen der Rhythmushand, im selbstverchorenden Sprechgesang körperlich. Zwischen Hemmung und Enthemmung bewegt sich darum der Sprachkörper Einar Schleefs. Und nur dieses Körpers wird man ansichtig im mit fünf gewaltigen Bänden nun abgeschlossenen großen, geradezu monströsen Tagebuchprojekt dieses Autors, der erst unter die Ostdeutschen fiel und dann, er kehrte 1976 von einer Theaterarbeit in Wien nicht mehr zurück, unter die Westdeutschen. „Aber im Osten war ich genauso fremdartig und fremd, wie hier.“ Eines von vielen gleichlautenden Zitaten. Man glaubt es sofort. Er ist, hier wie da, Fremdkörper geblieben, Nicht-Mitmacher, Stotterer, im Widerstand gegen sich und die Welt. Einar Schleef, dem nichts anderes, nichts Geringeres gegeben und – das ist sein Drama: aufgegeben – ist, als wütend und leidend zu sagen, was er leidet.

Sehr unterschiedlich sind die beiden letzten, die Ausgabe nun vollendenden Bände. Im ersten, der die Jahre 1981 bis 1998 umfasst, findet sich wenig wirkliches Tagebuchmaterial. Schleef hat wie ein Berserker gearbeitet in der Zeit, Theater gemacht und Bücher gemacht. „Gertrud“, das riesige Muttererinnerungs- und Aufschreibeprojekt. Und „Droge Faust Parsifal“, eine große Essay-Suada, ein Theoriebuch wie keines, über das Widerspiel von Individuum und Chor, übers Theater als Antikentheater, über Blut und Droge, ein assoziativ auf der Stelle wucherndes Thesendrama, zentriert um ein Ich: Einar Schleef.

Freiheit ist kein Wort

Teile daraus gehen ins Tagebuch ein. Dies ist der Band, bei dem die HerausgeberInnen Sandra Janßen, Winfried Menninghaus und Johannes Windrich am meisten geleistet, ediert, komponiert haben. So findet sich auch sonst vieles darin, das das Diarien-Genre eher umspielt: literarische Entwürfe, erste Fassungen dieser Texte, zweite Fassungen, dem Autobiografischen niemals fern, denn der Sprachkörper, der Erinnerungskörper, der Denkkörper, an dem Einar Schleef laboriert, ist immer der eigene Körper. Das Ich ist Schauplatz, von dem der Text niemals loskommt. Daran, dass Schleef irgendetwas je frei erfindet, ist gar nicht zu denken, wie überhaupt Freiheit das eine Wort wäre, das man in keiner Weise mit der Person, die man in diesen Tagebüchern kennenlernt, assoziiert.

Dann aber, 1999, geschieht etwas. Die Flut bricht los. Schleef beginnt wie ein Verrückter Tagebuch zu schreiben. Und er fasst den Plan, dem zuvor unter dem Namen „Kontainer Berlin“ laufenden Selbstforschungsprojekt eine andere Fassung zu geben, als komplett überarbeitetes, der Öffentlichkeit zugedachtes Tagebuch. Das dritte große literarische Werk Schleefs, monströs wie die anderen: genau so liegt es postum nunmehr auch vor. Trotz der ursprünglichen Ablehnung des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld, trotz der Entfremdung vom langjährigen Lektor und Freund Hans-Ulrich Müller-Schwefe.

Mit dem Entschluss zur Werkwerdung, den er um 1999 fasst, verbunden ist die Wiedervornahme sämtlicher Aufzeichnungen seit 1953, die Schleef nun ausdrücklich für die Veröffentlichung bestimmt. Er redigiert und revidiert wenig bis nichts, dazu ist er sich selbst viel zu sehr Dokument, aber er tut etwas anderes: Er überarbeitet sein Leben in Kommentaren und stellt sie als nachträglichen Blick auf die Zeit und sich darin mitten unter die historischen Texte. Sie sind weniger als Erläuterung gedacht, auch nicht als Korrektur. Schleef bestellt eher sein Leben zur Wiedervorlage und schreibt sich, bohrend wie je, neu hinein, nun in die Vergangenheit, während zeitgleich auch der tagesaktuelle Tagebuchbetrieb immer neue Textmassen produziert. Während diese Textmassen in den alten Tagebüchern die Vergangenheit von der Gegenwart her unterspülen, geht es mit den aktuellen Aufzeichnungen genau umgekehrt: Unterspülung der Gegenwart durchs Vergangene.

So ruft, zum Beispiel, ein Kinobesuch – Schleef sieht den indischen Dokumentarfilm „Kumar Talkies“ – Erinnerungen an Kinobesuche seiner Kindheit wieder auf. Und die Kinobesuche schleppen und schwemmen die Kindheit gleich mit heran, die Dörfer, Verwandtenbesuche, die Dresche, die er vom Vater bekommt, die Tage im Osten, beschworene Namen wie Martinsrieth, Hackpfüffel, Wettelrode, Wallhausen. So geht das meist: Ein Erlebnis, eine Begegnung, ein Film, oft auch im Fernsehen (Schleef sieht sehr viel fern) löst etwas aus, „ein Vorgang nimmt von mir Besitz, der sich meinem Zugriff, meiner Steuerung entzieht“. Dann geht es dahin, dann ist kein Halten mehr. Wenn Schleef über sein Schreiben schreibt – er liebt seinen Computer, an kaum etwas erinnert er sich so zärtlich wie an einen lange nicht mehr existenten Olivetti-Schreibcomputer –, dann übers Stocken und Stottern und Nichtweiterkommen, über die Mühsal des Tippens. Wenn er dann aber einmal losschreibt, dann taucht er weg, löst alle Bremsen, liefert sich den Strudeln hemmungslos aus.

Namen, die keiner mehr kennt, Vorfälle, die keinen mehr interessieren, alles gehetzt von Komma zu Komma, und das, was vor dem Komma steht, und das, was dahinter, hat oft einzig und allein im Kopf des Verfassers einen Bezug zueinander. Die Methode, die keine ist, ist das schiere Assoziieren, das Nachgeben, und nur mit Mühe und Not, denkt man, macht Schleef hier und da einen Punkt. Oder holt kurz einmal Luft in Sätzen wie diesen: „Mit über 56 sitze ich in Wien an einem Computer bei übergroßer Hitze und versuche über meine Kindheit nachzudenken.“ Als Leserin und als Leser hat man da nur eine grundsätzliche Wahl: Man macht mit oder nicht. Man lässt sich von den Erinnerungsströmen Schleefs mitreißen oder empört sich, weil diese Strudel sich immer nur einwärts drehen und nicht mal mehr als Schreibperformance noch jemanden zu adressieren scheinen.

Ums Leben schreiben

Er will festhalten, was festzuhalten ist, und schreibt der Kluft zwischen dem Festhalten und dem Fließen hinterher

Am 20. 1. 2001 dann recht lapidar der Eintrag: „Am 18. brach ich nach einem Telefonat mit Peymann zusammen, Herzstillstand.“ Danach gewinnt das Tagebuchschreiben noch größere Dringlichkeit, nimmt noch weniger Rücksichten auf chronologische und andere Zusammenhänge. Es ist ganz klar: Schleef schreibt jetzt um sein Leben. Berichtet von der Reha in Graal-Müritz. Kehrt zurück nach Berlin, macht eine letzte Reise nach Amsterdam, sieht fern, bekommt Genesungswünsche von Elfriede Jelinek, der wohl wichtigsten Kollaborateurin der vergangenen Jahre. Eine der ausgedehntesten Fantasien, die er niederschreibt, verquickt auf verstörende Weise eigene Todesvisionen mit Jelineks „Alpenstück“, das Schleef inszenieren wollte. Zwischendurch denkt er, kurz innehaltend, über die Unzuverlässigkeit des Erinnerns nach: „feststellen, dass zwischen dem Niedergeschriebenen, dem Festgehaltenen und dem tatsächlichen Zustand, dem Fluss, dem Fließen, der inneren Befindlichkeit eine Kluft herrscht“. Dieser Kluft ist Schleef auf der Spur, dieser Kluft schreibt er, festhaltend, was festzuhalten ist, hinterher. Vergeblich, natürlich, einerseits. Andererseits: Es steht nun alles, alles geschrieben.

Wellen müssen es sein

Der Fluss, das Fließen, man kommt, wie Schleef selbst, kaum umhin, nach Metaphern des Wassers und seiner Bewegungen zu suchen, um den Sprachkörper des Einar Schleef, wie er sich in diesen Tagebüchern präsentiert, zu beschreiben. Nicht zuletzt, weil Schleef ganz buchstäblich sein Heil im Schwimmen sucht. Ungezählte Male berichtet er davon. Wie er Frieden findet beim Schwimmen, im Schlachtensee in Berlin oder in der Donau in Wien. Das Wasser ist, er beschreibt es wieder und wieder, der Ort, der Zustand, in dem er einzig noch Ruhe findet vorm Andrängen der Gedanken und Tage. Er lebt für das Wasser und geht zugleich, in der Erinnerung hier, ins Wasser wie in den Tod:

„Gegen die Nordsee, wo ich das Fahrrad in die Düne werfe, meine Sachen vergrabe, dort, wo sich urzeitliche Plätze befinden, ziehe ich mich aus, angesichts des Wassers, das Grünblaugelb in jeder Farbe schimmert, nur Wellen müssen es sein, hohe Wellen oder spiegelglatt, wenn Horizont und Himmel eins werden, Dänemark, in dem mein Körper verschwindet, sich auflöst, als nähme mich der Horizont auf wie das Wiener Straßenpflaster, als wäre erst Ruhe, versagten die eigenen Kräfte.“

Der letzte Satz im Tagebuch, sechs Tage vor seinem Tod: „Mir kommt kaum ein Wort über die Lippen.“ Einar Schleef: Stottern und Sprechen. Er lieferte sich dann selbst ein ins Krankenhaus, stirbt am 21. Juli 2001, einsam, erst zwei Wochen später erfährt es die Welt.

■ Einar Schleef: „Tagebuch 1981–1998“, „Tagebuch 1999–2001“. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 459 bzw. 500 Seiten, je 30 €