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Archiv-Artikel

Eingehüllt in Lebensdramen

100 Jahre Kino machen müde: An den ersten freien Tagen nach der Berlinale stellen sich Entzugserscheinungen ein. Die Droge Film wirkt noch nach, man kommt aber auch über seinen eigenen Werdegang als Kritiker ins Grübeln

Plötzlich waren die Filmfestspiele vorbei. Nicht wirklich ganz plötzlich; es war vielmehr so, dass alles Richtung Ende zu gehen schien, ab Donnerstag letzter Woche. Die Arbeit war getan, man war erledigt, auch vom arbeitsbegleitenden Kettenrauchen, und am Abend auf dem Forumsempfang in der Volksbühne hatte man sich ein bisschen so gefühlt wie am Ende einer sehr erlebnisintensiven Reise. Wobei das Fest auch nicht mehr wirklich war, sondern ein seltsames Memento mori.

Anfang der 90er-Jahre war man ja auf den ersten Forumsempfängen gewesen. Damals war man noch ein anderer gewesen und hatte alles ausgesprochen witzig gefunden, wie ein Schüler im Lehrerzimmer. Man war dann rumgerannt und hatte sich Bier trinkend über dies und das amüsiert. A., der Vitalist, hatte dann übertriebene Joints in der Info-Box gebaut und dann war es noch lustiger geworden. Und auf dem Nachhauseweg war man mit dem Rad hingefallen und hatte sich darüber totgelacht.

Diesmal hatte man plötzlich den Eindruck, die sind ja mittlerweile alle genauso wie man selber. Im Grunde genommen. Genauso blöd und genauso nett. Am Rande hatte Lars Rudolph gestanden. Wir hatten vor zwanzig Jahren zuletzt miteinander geredet und nun das Gespräch wieder aufgenommen, so kam es mir vor. Ich sagte, er müsse unbedingt das Buch „Dorfpunks“ von Rocko Schamoni lesen, und er legte mir „Fleisch ist mein Gemüse“ ans Herz und später sprach ich noch eine Weile mit der Filmemacherin Maren Freese, die ich aus ihrer Super-8-Zeit kenne.

Früher war die Berlinale drei Tage länger; mittlerweile ist sie ja so kurz, dass sie schon wieder vorbei ist, wenn man sich dran gewöhnt hat. Früher hatte man auch fanatischer geguckt und das Festival irgendwie als eine ziemlich starke Gesamtdroge genommen, mit der man sich wegbeamte. Rauschhaft ist es zwar immer noch und die Berlinale eine Zeit, in der man losgelöst ist vom Alltag und nur sehr selten mit anderen spricht; aber die einzelnen Filme wirken stärker direkt auf einen ein, so stark auch, dass man am Abend nicht betrunken wird nach ein paar Biers, weil im Kopf so viele Gedanken miteinander sprechen.

Manche Filme verfolgten einen regelrecht ein paar Tage, wie dieser verwirrend perverse, quasi pornografisch-antipornografische taiwanesische Wettbewerbsfilm „Wayward Cloud“ von Tsai Ming-Liang, der einem zunächst wie ein satanisch operettenhaftes, antisexuelles Manifest vorgekommen war, und nach zwei Tagen dachte man, das ist ja auch ein toller Liebesfilm, der ziemlich weit geht usw. und fand die ungeteilte Begeisterung der Kollegen über diesen Film, der den Preis der Filmkritiker bekam, wieder seltsam – also, dass die sich nicht auch zunächst terrorisiert gefühlt zu haben schienen. Egal. Die Berlinale war super. Großartige Filme! Vieles nachdenkenswert und lebensnah.

Es ist ja so, dass im eigenen Leben normalerweise nicht viel passiert, aber dann geht man auf die Berlinale und guckt so viele Filme, in denen so viel Entscheidendes geschieht, ist also tagtäglich mit Lebensdramatiken konfrontiert, die einen doch sehr berühren, ist für zehn Tage dann auch als freier Journalist in einer arbeitnehmerähnlichen Regelmäßigkeit. Und dann ist plötzlich Schluss: Irgendwie schafft man's noch am Samstagmorgen in einen Film mit Andy Lau, dem einzigen Star, den man gut findet, bedauert mit einer Kollegin, dass es die Mitternachtsschiene im Delphi nicht mehr gibt, und beendet die Berlinale am Sonntagabend mit „Shining“, dem schönen Schriftstellerfilm, der einen vor hundert Jahren zum Filmfreund werden ließ. Und kriegt danach eine Grippe, wie viele, die bei der Berlinale waren.

DETLEF KUHLBRODT