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Archiv-Artikel

„Schwule Subkultur ist familiär“

Kann man progressiv Schlager hören? Der Kölner Musiker Justus Köhncke über die Vermischung der Genres auf seinem neuen Album „Doppelleben“, sein Coming-out in Gießen und den Geschmackskonservatismus unter Schwulen in Sachen Popkultur

INTERVIEW ULF LIPPITZ

taz: Herr Köhncke, steht der Albumtitel „Doppelleben“ für ein persönliches Konzept?

Justus Köhncke: Der Albumtitel steht für meine Kapitulation vor der Aufgabe, Clubtrack und Popsong – meinetwegen auch Schlager – irgendwie zu fusionieren, wie ich es auf der letzten Platte „Was ist Musik“ noch versucht habe. Ich habe halt gesagt, noch bevor nennenswert Musik da war, das Ganze hieße „Doppelleben“. Die beiden Welten stehen in meiner Musik nebeneinander.

Berührt das Konzept auch Ihr Privatleben – Ihre Homosexualität?

Nein, ein Doppelleben in sexueller Hinsicht habe ich nie führen müssen.

Mussten Sie sich als Teenager nie verstecken?

Jetzt würde ich gerne eine tolle Leidensgeschichte auftischen, aber das ist nicht der Fall. Ich hatte zum Glück schon mit 16 Jahren mein Coming-out. Der Grund war: ich war verliebt und hatte eine Affäre mit jemandem aus meiner Schule. Es hielt nur zwei Wochen – und der Typ war ein Arschloch. Aber ohne die Affäre hätte ich bestimmt weitere lange Jahre den nötigen Mut nicht aufgebracht.

Die Reaktion Ihre Mitschüler?

Ich habe in unserer Jahrgangsstufe damals einen Trend ausgelöst – plötzlich gab es zwei weitere Coming-outs von Jungs, bei denen ich mich darüber ganz schön gewundert habe. Gegenüber den Gleichaltrigen war das damals dramatischer als meiner Familie gegenüber. Die hatten kein echtes Problem, jedenfalls zeigten sie mir das nicht. Sicher hätten sie ganz gerne Enkelkinder gehabt, aber das kann man ja verstehen.

Wie lange ist das her?

Das war 1984. Das Jahr von Bronski Beat und Aids.

Was sagen die beiden Stichworte über das Jahr aus?

Tja, Bronski Beat kultivierten einen Jeans-T-Shirt-Skinschädel-Look. Sie haben einen ganz neuen Typus schwulen Selbstbewusstseins geprägt. Das war ganz groß und eben eine entscheidende Stufe weiter als Boy George, der 1984 bereits sein transsexuelles Unwesen in den Charts trieb. Bronski Beat waren halt nicht mehr schrill, sondern normal und sexy. Das war das Neue. Und die Aids-Keule konnte dieses neue schwule Selbstverständnis nicht dämpfen, es führte eher zu einer neuen Politisierung in den hedonistischen 80ern, durch schwule Gruppen wie Act Up zum Beispiel.

Nach der Schule gingen Sie nach Köln?

Ich musste aus der Provinz weg – Gießen war mir einfach zu klein und muffig. Aber zuerst ging es drei Jahre nach Düsseldorf. Obwohl ich das als überzeugter Kölner ungern zugebe.

Sie gelten als Schlagerfan. Warum sind Schlager bei Schwulen so beliebt?

Erstens bin ich kein ausgesprochener „Schlagerfan“, sondern einfach nur Liebhaber guter Songs und Texte, insbesondere in meiner Muttersprache. Der durchschnittliche Homo-Musikgeschmack ist leider ein wenig konservativ – Marianne Rosenberg, Handbag-House.

Sie hingegen verehren Hildegard Knef?

Sehr. Aber mehr als Lyrikerin denn als Diva.

Warum brauchen Schwule die Diven-Faszination?

Die Diva ist die ideale Projektionsfläche für das singuläre schwule Drama. Sie vertauschen die Geschlechter und schon haben Sie eine schwule Lebensgeschichte.

Sie reden von einem konservativen Musikgeschmack. Sind Schwule nicht so trendbewusst wie oft heraufbeschworen?

Der standardisierte Brainwash-Schwule, wie ich ihn gerne nenne, verhält sich ästhetischen Neuerungen gegenüber wenig aufgeschlossen. Aber das gibt der schwulen Subkultur einen familiären Charakter. Wenn man ins Ausland fährt, in einen schwulen Club geht – das ist wie nach Hause zu kommen. Du weißt halt, was für Musik läuft.

Gibt es heute eine erkennbar schwule Popmusik, die erfolgreich ist?

Mehr als je zuvor, von Scissor Sisters bis Rosenstolz. Das scheint mir aber alles weniger revolutionär als Glamrock in den frühen 70ern oder der Synthie-Pop der 80er.