In die Zukunft geschleudert

Avantgarde hat Tradition in der Brooklyn Academy of Music. Hier hatte Laurie Andersons Nasa-kritische neue Performance gerade Premiere. Dabei ist das BAM selbst zur Keimzelle einer städtebaulichen Umwälzung von Brooklyn geworden

VON DANIEL SCHREIBER

Sie ist hier schon oft gelandet: Die Performance- und Videokunstveteranin Laurie Anderson ist seit Beginn der Achtzigerjahre regelmäßig im BAM, der Brooklyn Academy of Music, zu Gast. Ihre neueste Theaterarbeit „The End of the Moon“ hatte hier am Dienstag ihre New Yorker Premiere. Doch vor allem sorgen die Erweiterungspläne des BAM, an denen der Architekt Frank Gehry maßgeblich beteiligt ist, für städtebauliche Aufregung, weil sie eine neue Stufe der Gentrifizierung von Brooklyns Downtown einleiten. Anderson besingt das Ende des Mondes, und das könnte fast eine Metapher sein für das Ende der alten Raumordnung auch in der Stadt New York.

Brooklyn hat sich in den letzten Jahren beachtlich herausgeputzt, und einige seiner Viertel stehen heute für mehr Lebensqualität und Hipness als Manhattans Wolkenkratzerinsel. Schon lange weiß man, dass Williamsburgs Galerien und Nachtclubs experimentierfreudiger sind als die in Chelsea oder Soho, und natürlich lebt es sich in weitläufig-grünen Wohngegenden wie Park Slope besser als im engen East Village. Auch ein Gros des Immobilienmarkts hat sich über den East River hinweg in den bescheideneren Stadtteil verlagert, wo die Gewinnspannen ungleich größer sind.

In Greenpoint soll nun eine neue Skyline aus luxuriösen Hochhäusern entstehen, im ehemaligen Marinestützpunkt am East River eröffnet Endes des Jahres ein Filmstudiokomplex mit mehr als vierzig neuen Gebäuden, und Frank Gehry hat eine spektakuläre Sportarena für das Viertel Fort Greene entworfen, die gleich neben einer Reihe eleganter Wohntürme errichtet werden soll.

Die Entwicklung eines neuen Theaterdistrikts um das BAM im selben Viertel ist das ehrgeizigste unter den neuen Projekten. Die mit 630 Millionen Dollar veranschlagten Pläne für das Kunstzentrum enthalten neben Tanzstudios, Galerien und Künstlerbüroräumen eine Bibliothek für bildende und darstellende Künste, die vom mexikanischen Architekten Enrique Norten entworfen wurde. Das mehrfarbige Glasdesign der Bibliothek soll sich direkt an den postmodernen Theaterbau anschließen, der von Frank Gehry gemeinsam mit Hugh Hardy entwickelt wurde. Im Innern wie ein klassisches Shakespeare-Theater aufgebaut, schlängeln sich außen Bänder mit Gehry-typischen Kurven an einem Quader entlang, der von einer Seite aus Glas ganz einsichtig sein soll.

Ideeller Gründervater und Präsident der Planungsgruppe für den Theaterdistrik, dessen Eröffnung bereits für Ende 2007 geplant ist, ist Impresario Harvey Lichtenstein, der in Brooklyns Downtown schon Mitte der Sechzigerjahre für kulturellen Aufruhr sorgt. Damals übernahm er die künstlerische Leitung der BAM, Keimzelle der neuen Entwicklung. Als Lichtenstein sein Amt antrat, waren die beiden ehemals prachtvollen, klassizistischen Theatergebäude des BAM ebenso wie das sie umgebende Fort Greene dem Verfall preisgegeben. Die Wohngegend hatte gettohafte Züge angenommen, die maroden Theaterbauten wurden lediglich für Hochzeiten und Karatestunden genutzt. Heute ist das BAM der spannendste New Yorker Standort für Theater, Oper, Tanz und Performance. Aber immer noch prägen kleine Bodega-Läden und behelfsmäßig in Wohnhäusern untergebrachte baptistische Kirchen das Stadtbild.

Lichtensteins Konzept für das marode BAM war ebenso riskant wie erfolgreich. Zum einen versuchte er, damals noch unbekannten amerikanischen Choreografen und Theaterkünstlern wie Robert Wilson, Bill T. Jones oder Merce Cunningham Aufführungsorte zur Verfügung zu stellen und sie mit regelmäßigen Produktionen ans Haus zu binden. Zum anderen brachte er mit Künstlern wie Pina Bausch, Peter Brook oder Ariane Mnouchkine, die im kulturkonservativen Amerika zunächst als Eurotrash verschrien waren, auch die internationale Theateravantgarde ins BAM. Ein Programmkino, eine wöchentliche Musikreihe und spezielle Literaturveranstaltungen, bei denen man zusammen mit Autoren wie Paul Auster dinieren konnte, machten das BAM-Programm komplett.

Mit einem jährlichen Budget von 27 Millionen und einer Stiftung von 50 Millionen Dollar – ein Anteil wird von der Stadt New York getragen, der größere Teil stammt aus privaten Spenden – hat das heutige BAM ein kuratorisches Profil, das in New York einzigartig ist. Fans behaupten sogar, dass BAM der einzige Ort in Amerika sei, bei dem man überhaupt von Theater sprechen könne. Wenn diese Behauptung auch ein bisschen überzogen scheint – in einer Theaterlandschaft, wo Musicals und naturalistische Wohnzimmerdramen die Regel sind, versteht man die Lust an der Übertreibung.

Laurie Andersons neues biografisches Solostück „The End of the Moon“ hat schon vor der Premiere für Schlagzeilen gesorgt, ging ihm doch eine Künstlerresidenz bei der Nasa voraus. Diese dürfte aber über das Ergebnis ihres Stipendiums bei der Raumfahrtbehörde nicht besonders erfreut sein.

Die vergangenen Jahrzehnte haben Laurie Anderson erstaunlich wenig anhaben können. Allenfalls die Länge ihrer Theaterarbeiten ist heute leichter konsumierbar als zu Beginn ihrer Karriere, als sie im BAM noch achtstündige Marathons mit Titeln wie „United States I–IV“ unternahm. Ihre weiche, dunkle und verführerische Stimme, die von elektronischen Klängen begleitet manchmal hypnotische Qualitäten annimmt, ist unverändert das Zentrum ihrer Arbeit. Wie in früheren Zeiten tritt sie auch im neuen Performancestück mit einer elektronischen Violine auf, auch sonst ist sie allseits verkabelt, ja geradezu cyborghaft in die Bühnentechnologie eingebettet. Der Skandal, den die Anderson-Stimme verursacht, ist dabei das Menschliche, das sich zwischen all der Technik seinen Weg ins Zuschauerohr bahnt, und die Geschichten, die es dort traumwandlerisch geschickt platziert.

Wie „The End of the Moon“ belegt, waren die beiden Nasa-Jahre lehrreich für die Künstlerin. In ihrer Märchenstimme unternimmt sie ziemlich elaborierte Ausführungen über Nanotechnologie und Robotronik und gibt Anekdoten über das Raumfahrtzentrum in Houston zum Besten. Aber das Thema, das sie am meisten bewegt hat, sind die vielfältigen Verbindungen der Nasa zum amerikanischen Militär. Die mit allen biotechnologischen Finessen ausgestatteten, von der Nasa entwickelten Raumfahrtanzüge würden, erfährt der Theaterbesucher, nicht im Weltall, sondern in der irakischen Wüste eingesetzt. Der amerikanische Krieg, so ihre Einsicht zum Ende ihrer Arbeit, werde niemals zu Ende gehen. Lediglich seine Orte würden in der Zukunft verlagert werden. Von der Beobachtung ausgehend, dass in den Sechzigerjahren Regierungspläne existierten, Atombomben auf der von der Erde nicht einsehbaren Seite des Mondes zu testen, macht Anderson das Ende des Mondes dabei zu einer Metapher für die grundlegende Verantwortlichkeit des Menschen für seinen Planeten – und für die Kritik an Amerikas Ideologie der ewigen geografischen Ausdehnung.

Solche am Dissens orientierten Positionen sind im heutigen Amerika so sehr aus der Mode geraten, dass man dem BAM besonders dankbar dafür sein muss, dass es ungeachtet des politischen Klimas solche Arbeiten weiterhin auf die Bühne stellt. In einer Szene der Performance erzählt Anderson überraschend, dass sie aufgrund der verstärkten Polizeipräsenz neuerdings immer häufiger versucht, ihrem Wohnviertel in Manhattan zu entfliehen. Wohin sie üblicherweise ausweicht, hat sie nicht gesagt, aber es ist anzunehmen, dass sie des Öfteren nach Brooklyn fährt. Dort könnten ihr dann jene Protestschilder in den Fenstern von Häusern auffallen, die durch die neuen Wolkenkratzer-, Stadium- und Theaterpläne vom Abriss bedroht sind. Die New Yorker Überwindung des Grenzhorizonts nach Brooklyn dürfte nicht ohne ein paar fragwürdige Folgen bleiben. Zahlreiche Proteste regen sich gegen die voranschreitende Gentrifizierung.

Viele Brooklyner fürchten um das markante Gesicht des Stadtviertels und um den Verlust der eigenen Geschichte, die in den letzten Jahren durch überaus erfolgreiche Brooklyner Schriftsteller wie Jonathan Lethem, Colson Whitehead und Michael Chabon auch den Weg ins öffentliche Bewusstsein gefunden hat. Solche Ängste scheinen auch ganz ohne Nostalgie und romantische Verklärung berechtigt. Sicher scheint auf jeden Fall, dass es jene Storefront-Kirchen und winzigen Bodega-Läden bald nicht mehr geben wird.