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Archiv-Artikel

Fernab jeglicher Hektik

Das tschechische Isergebirge unweit des Riesengebirges ist ein Paradies für Menschen, die Ruhe suchen. In Klein-Iser gibt es keine Lifte, nur einige Skilangläufer drehen auf den Loipen ihre Runden

VON KERSTIN MICKLITZA

Kein Laut weit und breit. Nur der Schnee knirscht unter den Füßen. Das Thermometer am Gasthaus Pyramide zeigt zehn Grad unter Null. Wie eine Decke hat sich der Nachthimmel über Klein-Iser (Jizerka) ausgebreitet, die Sterne leuchten hier heller und klarer als in der Stadt. Doch nicht immer sind die Winterabende hier freundlich. Oft pfeift der Wind gnadenlos über die Hochfläche, verweht den Schnee nach Lust und Laune, so dass ein Fortkommen auf der Straße nicht mehr möglich ist.

Klein-Iser ist der kälteste Ort in Böhmen, im Jahre 1943 wurden –40 Grad Celsius gemessen. Unwillkürlich lässt das an Landschaften nördlich des Polarkreises denken. Das harte Klima, die umliegenden Wälder und kahlen Berge verstärken den Eindruck, man wäre mit einem Male jenseits des Polarkreises gelandet. Der Vorteil: Einladende, gut geheizte Bergbauden sind oft im Stundenabstand zu finden. In jeder wird wohlschmeckendes Bier gezapft, was mit Gulasch und Knödeln genossen allein jede Reise nach Tschechien rechtfertigt.

Im 19. Jahrhundert hatte das heutige Jizerka seine größte Blüte. 1828 ließ Franz Riedel hier die erste Glashütte erbauen, Rohstoffe, vor allem Holz für die Brennöfen, gab es genug. Mit den Wäldern verging ein Teil der Romantik. Doch noch ist sie nicht gänzlich verschwunden. Es ranken sich Geschichten um Edelsteinsucher, Jäger, Wilddiebe, Schmuggler und Abenteurer. Der Raubschützenfelsen auf dem Mittleren Iserkamm ist eine mächtige Felsengruppe. Es wird erzählt, dass hier um das Jahr 1813 der berüchtigste Wilderer des Isergebirges namens Hennrich sein Versteck hatte. Nach einigen Jahren seines nicht gerade leichten Lebens soll er vom einarmigen Jäger Hub ganz in der Nähe erschossen worden sein. Die Felsen erinnern an den Wilderer. An der Stelle, wo er zu Tode kam, steht ein Holzkreuz.

Stets war das Isergebirge nur ein „armer“ Verwandter des mächtigen Riesengebirges. Dort gewann man Gold und Silber, hier nur Eisen- und Zinnerze. Einzig an der Kleinen Iserwiese beim Saphirflössel wurden Mineralien gefunden. Noch heute kommen dort matt glänzende Halbedelsteine, die Iserine, vor. Und von hier stammt auch der schönste böhmische Saphir, der heute in der Mineraliensammlung des Prager Nationalmuseums zu sehen ist.

Das Isergebirge ist eine andere, eine eigene Welt. Sie existiert fern jeglicher Hektik des normalen Alltags. Hierher kommen die Romantiker, die nach Ruhe und Einsamkeit Suchenden. Wenn sie oben am Parkplatz unterhalb des Buchberges stehen und auf die verstreut liegenden Häuser hinab und in die Weite schauen, dann spüren sie diesen besonderen Zauber des Isergebirges.

Keine Lifte, kein Skizirkus in Klein-Iser. Nur Skilangläufer drehen auf mehreren Loipen ihre Runden. Die Anfänger auf dem Promenadenweg bis zum Wittighaus (Smedava), wo sie sich auf der Sonnenterrasse bräunen und leckere Sahneeisbecher löffeln. Die Durchtrainierten genießen die kilometerlange Abfahrt über Christiansthal (Kristiánov) bis zum Umgebindeschloss Neuwiese (Nová Louka), die sie sich auf dem Rückweg mühsam bergauf kämpfen werden, und lächeln am Ende des Tages darüber, dass sich die Runde schon wieder auf knapp vierzig Kilometer summiert hat. Nach derlei Aktivitäten und einem großen Bier sinken die Ansprüche. Man braucht keinen Fernseher, keine Unterhaltung, noch nicht mal ein Buch. Diese angenehme Schwere verteilt sich gleichmäßig über den Körper. Nur ein kuscheliges Bett muss jetzt her, für einen tiefen erholsamen Schlaf.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts kostete ein Bett im Gasthaus Pyramide noch eine Krone. Inzwischen haben sich die Preise etwas geändert. Dafür gibt es heute auch mehr Luxus. Das bedeutendste Gebäude in Klein-Iser war das Riedel’sche Herrenhaus, Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts neben der Glashütte gebaut. Dank des Engagements von Ondrej und Renata Duda wurde es liebevoll als kleines Hotel mit 13 Zimmern rekonstruiert und soweit als möglich im historischen Stil erhalten. Ondrej Duda schwärmt: „Unser Haus ist die ideale Ausgangsbasis für Naturliebhaber, Skilanglauffreunde und Radfahrer.“ Nach einer anstrengenden Wintertagestour genießt man die hauseigene Sauna mit Whirlpool in vollen Zügen, und der Muskelkater verflüchtigt sich bald von allein.

Jeder, der nach Klein-Iser kommt, kehrt in der Regel wenigstens einmal im Gasthaus Pyramide ein. Es bekam seinen Namen von der Steinpyramide nebenan, die 1815 zu Ehren des Grafen Wilhelm Clam Gallas aufgestellt wurde und bis heute dort steht. Ab April 2005 soll das Gasthaus behutsam umgebaut werden. Der historische Speisesaal im Blockbaustil wird zur Cafeteria, das Übernachten in den Gästezimmern soll zu günstigen Preisen möglich bleiben.

Wenn man auf der Loipe vom Wittighaus nach Klein-Iser fährt, grüßt am Horizont der Buchberg. Links davon präsentiert sich majestätisch das höhere Riesengebirge. Vor dem Buchberg sind die Häuser von Klein-Iser verteilt. Manche, wie das berühmte Misthaus, bleiben bei vielen Besuchern unvergessen. Angefüllt bis unters Dach mit Mitbringseln von allen Teilen des Globus, war das Haus als „schönste Rumpelkammer der Welt“ bekannt. Die Misthausstube, die der Globetrotter und Vortragsreisende Gustav Ginzel mit Geschichten aus aller Welt belebt hatte, war ein Ort untrennbar mit Klein-Iser verknüpft. Nun bleibt sie wegen Krankheit des Besitzers leider leer.

Früher war Klein-Iser durch den Zollweg direkt mit Groß-Iser auf der preußischen Seite verbunden. Heute ist das benachbarte Tal in Polen nur über einen Umweg zu erreichen: Vom Grenzübergang für Wanderer und Skiläufer am Bahnhof Harrachov. Jenseits der Grenze fächert sich ein paradiesisches Loipennetz auf. Durch Carlsthal (Orle) mit einem Gasthaus führt der Skiwanderweg auf die Wiese von Groß-Iser. Von ehemals 30 Häusern blieb dort nur die Neue Schule, heute Baude Górzystów. Weltabgeschieden, mit eiskaltem Wasser aus dem Ziehbrunnen, Plumpsklo und Notstromaggregat. Das Holz zum Einheizen der Zimmer muss man hier jeder selbst hacken. Es sind vor allem junge Menschen, die Lust auf ein solches Abenteuer abseits der modernen Zeit verspüren.