: Die Beschwörer der Angst
Die „Visa-Affäre“ wurde hochgekocht, um einer Großoffensive der Rechten den Weg zu bereiten. Mit ihrer Angstkampagne wollen sie die Bundesrepublik zu einem Sicherheitsstaat machen
VON CHRISTIAN SEMLER
Aus allen Himmelsrichtungen wird gegenwärtig kübelweise stinkender Unrat über unseren Köpfen ausgekippt. Von München bis Kiel, die Hauptstadt nicht zu vergessen, läuft eine konzertierte Aktion der Konservativen ab, die einen an dem Grad demokratischer Zivilität, den Deutschland angeblich erklommen hat, zweifeln lässt.
Im Zentrum steht nach wie vor die Behauptung, die Grünen hätten – Folge ihrer Multikulti-Träumereien – dazu beigetragen, „dass zusätzliche Kriminalität und Zwangsprostitution in unser Land eingeschleust wurden“ und dadurch „die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet wurde“. Für diese Behauptungen sind bislang keine stichhaltigen Beweise aufgeführt worden, vielmehr erweisen die Materialien der Verfolgungsorgane, dass es während der Geltungsdauer der inkriminierten Erlasse zu keiner Erhöhung ukrainischer Zwangsprostitution in Deutschland kam, dass ferner die Zahl ukrainischer Schwarzarbeiter im fraglichen Zeitraum nicht anstieg. Natürlich geht es hier um Stichproben und um Indizien. Die aber werden einseitig interpretiert. Dass den Versicherungen aus den Schutzbriefen keine Schadensfälle entstanden, kann eben auch bedeuten, dass die ukrainischen Versicherungsnehmer nicht abtauchten, sondern in ihre Heimat zurückkehrten. Usw. bis hin nach Portugal, wo zur Zeit der Geltung des Erlasses, im Vorfeld der Fußball-EM, ukrainische Billigstarbeiter für die Fertigstellung der Stadien willkommen waren. Jetzt sind sie zu via Deutschland eingeschleusten Schwarzarbeitern mutiert.
Aber um Sachaufklärung geht es überhaupt nicht, sondern darum, mit Hilfe einer Angstkampagne Elemente des Sicherheitsstaats durchzusetzen, vor denen die liberale Öffentlichkeit bislang zurückschreckte. Nicht der konkrete Schutz von Verbrechensopfern steht im Mittelpunkt, sondern die plastische Beschwörung potenzieller Großgefahren und Großrisiken. So dass an die Stelle einer realen Verbrechensgefährdung Opferfantasien treten, das heißt imaginierte Alltagserfahrungen dessen, was einem widerfahren könnte.
Verstärkt gilt diese Arbeit an der Angstpsychose für die Behauptung des CSU-Generalsekretärs Söder, Rot-Grün sei als „Kartell der Schuldigen“ für Verbrechen an Kindern anzusehen, weil es die Koalition verabsäumt habe, Kindermörder und -schänder dauerhaft wegzusperren. Das Argument ist nicht nur monströs wegen der Konstruktion einer vorgeblichen Kausalität zwischen der Rechtspolitik der Regierung und Rückfalltätern. In ihm spiegeln sich auch die autoritären Phantasma, nach denen Strafrecht und Strafvollzug zum Allheilmittel gesellschaftlicher Probleme erklärt werden.
Flankiert wird die Horrorkampagne der Konservativen durch eine ebenso antidemokratische wie minderheitenfeindliche Hetze gegen den Südschleswigschen Wählerverband und dessen Absicht, eine rot-grüne Minderheitsregierung zu stützen. Hier ist vom „moralischen Anspruch“ Carstensens (CDU) die Rede, die Regierung zu bilden, als ob nach demokratischen Regeln irgendetwas anderes zählen würde als die parlamentarische Mehrheit. Aber der Ton wird schärfer. Roland Koch „warnt“ die Spitzenkandidatin des SSW davor, die „Sonderstellung“ des Verbands „zu missbrauchen“. Mit dieser „Warnung“ wird postuliert, der Minderheit käme nur ein auf spezifische Minderheitenfragen eingeschränktes politisches Mandat zu. Solche Ansichten in Form von Warnungen auszusprechen, zielt direkt auf die Mobilisierung latenter Massenstimmungen. Und sie fügt sich ein in das Bekenntnis Kochs zu einem „deutschen Patriotismus“, wo nicht nur jeder sein Scherflein zur Selbstausbeutung beitragen soll, sondern wo auch „nichtdeutsche“ Elemente wie die dänische Minderheit zu kuschen haben, sonst wird ihnen wenig helfen, dass sie im Besitz des deutschen Passes sind.
Was aber den kritischen Zeitgenossen wirklich deprimiert, ist der Unwille oder die Unfähigkeit vieler Politiker von Rot-Grün, auf die Offensive der Konservativen angemessen zu reagieren. Was bringt es, wenn Volker Beck (Grüne) den Verlust politischen Anstands beklagt und mutmaßt, CSU-Söder habe den Verstand verloren? So kommt man dem eiskalten Kalkül der Gegenseite nicht bei. Oder wenn Dieter Wiefelspütz (SPD) von „beispielsloser Grenzüberschreitung“ Söders spricht und als Konsequenz befürchtet, „dann können wir einpacken in Deutschland“. Am schlimmsten aber ist, dass Medien mit linkem oder linksliberalem Anspruch bis heute nicht erkennen, dass die Visa-Affäre hochgekocht wurde, um einer reaktionären Großoffensive der Rechten den Weg zu bereiten.