Türkei stellt sich erstmals der Armenien-Frage

Intellektuelle fordern, den Völkermord an den Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches endlich anzuerkennen. Bisher ist das Schicksal von rund einer Million verfolgter Armenier in der Türkei kein öffentliches Thema

ISTANBUL taz ■ „Machen wir uns nicht länger etwas vor. Der Zug ist längst abgefahren. Die westliche Welt ist überzeugt von einem Völkermord an den Armeniern, auch wenn das nicht stimmt.“ In einem Kommentar für die türkische Daily News forderte vor wenigen Tagen einer der bekanntesten Journalisten der Türkei, der Anchorman von CCN Türk, Mehmet Ali Birand, die Regierung in Ankara dazu auf, ihre Position im Umgang mit der armenischen Frage neu zu überdenken. Die offizielle türkische Haltung, einen Völkermord an den Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches habe es nie gegeben, sei international auf Dauer nicht durchsetzbar.

Birand und andere fordern die Regierung auf, sich dafür einzusetzen, dass die UNO eine unabhängige Kommission einsetzt, die die Politik der osmanischen Regierung gegenüber der armenischen Minderheit in der Zeit von 1915 bis 1918 untersuchen soll. „Das würde uns erst einmal Luft verschaffen, um eine neue Strategie zu diskutieren.“

Bislang versucht die Politik die Auseinandersetzung um den „Völkermord“ auf die Ebene eines Historikerstreits zu reduzieren. Während vorwiegend armenischstämmige Historiker in den USA und Frankreich ihre Sicht der Ereignisse publizieren und damit die internationale Öffentlichkeit auch weitgehend überzeugt haben, versuchen türkische Wissenschaftler unermüdlich das Gegenteil zu beweisen. Auf Einladung der historischen Fakultät der Universität Wien hatte letztes Jahr erstmals ein Treffen armenischer und türkischer Historiker stattgefunden, um einen Anlauf zu einer wissenschaftlichen Verständigung zu machen. Dabei war ein Austausch von Dokumenten vereinbart worden, dem die armenische Seite bislang nicht nachgekommen ist. Das für Mai angestrebte Folgetreffen wurde deshalb erst einmal abgesagt.

Vor wenigen Tagen hat nun der Parlamentsausschuss für die Beziehungen zur EU beschlossen, sich selbst ein Bild zu machen und dazu armenischstämmige Wissenschaftler und Vertreter der türkischen Historikervereinigung einzuladen. Dabei, so der stellvertretende Ausschussvorsitzende Ali Riza Alaboyun, sollen die unterschiedlichen Erkenntnisse zur Sprache kommen.

Parallel zu der politischen Diskussion, die im Wesentlichen eine Reaktion auf den zunehmenden Druck von außen ist, erscheinen in den letzten Jahren immer häufiger Filme, Bücher und Ausstellungen, die unabhängig von der Frage „Völkermord ja oder nein“ dem breiten Publikum zeigen, dass es einmal ein reiches armenisches Leben in den Grenzen der heutigen Türkei gab. So zeigt eine gut besuchte Ausstellung Postkarten vom Alltag der Armenier zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Zurzeit sorgt das Buch „Anneannem“ (Meine Großmutter) für Aufmerksamkeit, in dem die Anwältin Fethiye Cetin über ihre Großmutter berichtet. Die vor einigen Jahren gestorbene Frau hatte ihrer Enkelin erzählt, dass sie früher nicht Seher, sondern Heranus geheißen hatte und das Kind armenischer Eltern war. Als die Massaker und Vertreibungen im Frühjahr 1915 begannen, wurde sie während des Hungermarsches in die Mesopotamische Tiefebene, wohin die Armenier Ostanatoliens deportiert werden sollten, von einem Offizier ihrer Mutter entrissen, der sie dann später adoptierte. Fethiye Cetin beschreibt in dem Buch das Schicksal ihrer Großmutter und anderer armenischer Familien.

Fethiye Cetin, wie auch die meisten Vertreter der heutigen armenischen Gemeinde in der Türkei, will nicht über den Begriff Völkermord streiten. Begriffe und Interpretationen von Ereignissen können sich ändern. „Was gestern Deportation hieß, kann heute Genozid heißen“, schreibt Mehmet Ali Birand. „Es wird Zeit, darüber eine neue Debatte zu eröffnen.“

Dieser Aufforderung ist der derzeit prominenteste türkische Schriftsteller, Orhan Pamuk, prompt nachgekommen. In einem Interview mit dem Zürcher Tages-Anzeiger sagte er: „In der Türkei wurden eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht. Ich sage das ganz deutlich und deswegen hassen die Nationalisten mich.“ Die fühlten sich auch prompt angesprochen. Der Kommentator de Zeitung Hürriyet, Fatih Altayle, drohte öffentlich ihn anzuzeigen, was dann ein Vertreter der Anwaltskammer aus Kayseri auch umsetzte. Er zeigte Pamuk wegen Verunglimpfung der Republik an. Jetzt darf man gespannt sein, was die Justiz daraus macht.JÜRGEN GOTTSCHLICH