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Archiv-Artikel

„Die Grünen müssen sich ihres eigenen Verstandes bedienen“, sagt Joachim Raschke

Für den Hamburger Politologen entscheidet die Visa-Affäre, ob sich die Partei von Joschka Fischer emanzipieren kann

taz: Herr Raschke, die Grünen stellen sich in der Visa-Affäre als Opfer einer konservativen Kampagne dar. Haben sie Recht?

Joachim Raschke: Im Kern haben die Grünen ihre Fehler selbst gemacht. Wenn die Kampagne nicht ein Korn Wahrheit enthielte, dann wäre sie längst zu Ende.

Warum haben die Grünen die Brisanz der Vorwürfe nicht rechtzeitig erkannt?

Das Frühwarnsystem hat versagt, weil sich die grüne Parteiführung selbst blockiert. Bei den großen Fragen hatte Fischer immer die Letztzuständigkeit. Dass er Fehler macht, war nicht eingeplant. Die anderen hatten schlichtweg Angst: Wer den Kopf zu weit hinausstreckte, musste um seine Karriere bangen.

In Ihrem Buch über die Grünen haben Sie das Fehlen eines „strategischen Zentrums“ beklagt. Mit der neuen Partei- und Fraktionsführung schien das Problem behoben zu sein. War das eine Täuschung?

Die Bewährungsprobe stand für die Parteiführung noch aus. Jetzt sieht man, dass sie nicht wirklich souverän ist. Sie zeigt eine Form kollektiver Regression. Die Grünen-Führung hatte schon einen professionellen Umgang mit der Öffentlichkeit erlernt. Jetzt, wo der Übervater Fischer in Bedrängnis ist, fällt sie auf ein früheres Stadium zurück.

Ist die Parteiführung in Fragen, die Fischer betreffen, jemals souverän gewesen?

Nein. Es ist zwar nicht neu, dass Fischer Fehler macht. Neu ist aber, dass er es öffentlich gesagt hat. Damit ist es eine soziale Tatsache, an die andere anknüpfen können. Vielleicht auch anknüpfen müssen: Fischer macht Fehler, deswegen müssen andere auf ihn aufpassen.

Bestand das Problem nicht darin, dass Fischer dieses Eingeständnis so lange vermied?

Er war lange Zeit unfähig, den einfachen Satz zu sagen: Ich habe Fehler gemacht. Was aber weiterhin fehlt, ist eine plausible Erklärung dieser Fehler. Hier ist eine neue Selbständigkeit der Parteiführung gefragt. Sie muss, um es mit Kant zu sagen, sich auch gegenüber Fischer ihres eigenen Verstandes bedienen. Sie muss ihre „selbst verschuldete Unmündigkeit“ überwinden. Die Grünen müssen ernst nehmen, was Fischer am vorigen Wochenende nur rhetorisch gemeint hat: Meine Fehler sind nicht eure Fehler.

Offenbar glauben die Grünen, sie kämen ohne Fischer nicht aus. Das Ende von Fischer, heißt es, wäre das Ende der rot-grünen Koalition und möglicherweise auch das Ende der Grünen.

Das dürfen Journalisten denken oder auch der politische Gegner. Aber wenn das die Parteiführung denkt, dann sollte sie ihre Arbeit einstellen. Ob die Grünen später mal ohne Joschka Fischer erfolgreich sein können, entscheidet sich jetzt an ihrer Fähigkeit, die Parteiinteressen im Zweifel auch gegen Fischers persönliche Interessen zur Geltung zu bringen.

Wie kann die Parteiführung das tun?

Sie muss strategische Fragen selbständig beurteilen. Zum Beispiel die Frage, ob sie Fischer nicht bald eine Stellungnahme vor der allgemeinen Öffentlichkeit abverlangen muss, bei der auch nachgefragt werden kann – zum Beispiel im Untersuchungsausschuss oder vor der Bundespressekonferenz.

Warum sollten die Grünen eine Strategie ändern, die bei der Kernwählerschaft offenbar verfängt: Wir verteidigen Freiheit und Menschenrechte, was wollen die Konservativen eigentlich?

Weil diese Form der Reideologisierung eben nur bei der Kernwählerschaft greift. Im Randwählerbereich erzeugt sie dagegen eine Irritation, die sich am enttäuschenden Wahlergebnis in Schleswig-Holstein ablesen lässt. Wichtiger ist aber, dass diese Strategie der Vorwärtsverteidigung dem Koalitionspartner SPD schadet. Für Teile der SPD-Wählerschaft steckt in der einseitigen Betonung der offenen Gesellschaft ein Bedrohungsmoment. Das kann durchaus zum Ende von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen beitragen.

Was hat den Kanzler dann dazu gebracht, sich über Fischers Auftritt vom vorigen Wochenende „begeistert“ zu zeigen? Ist er wie die grüne Parteiführung abhängig von Fischer?

Auch er hat offenbar diese Elitenperspektive, dass die Grünen ohne Fischer nicht überlebensfähig seien. Das halte ich für falsch. Fischer ist zwar als solcher nicht zu ersetzen, aber die Grünen werden immer mehr als Fischer sein.

Wenn Fischer vor dem Ausschuss Stellung nimmt – ist das Thema dann entschärft?

Im Kern geht es in dieser Debatte um eine wichtige gesellschaftliche Frage, um das Ausbalancieren von Freiheit und Sicherheit. Selbst wenn Fischer keine wirklich plausible Erklärung dafür hat, warum er in einer solchen Frage jahrelang untätig war – er muss sich dazu äußern. Selbst bei schweren Fehlern gilt: Je schneller ein Politiker sie eingesteht, desto besser sind die Aussichten, dass die Öffentlichkeit zum nächsten Thema übergeht.

Warum zögert Fischer dann?

Weil er Angst vor Falschaussagen hat. Und weil er dabei in Kauf nehmen muss, dass sein Bild beschädigt wird. Die Wähler schauen jetzt genauer hin, wer Fischer wirklich ist. Neben seinem Charisma werden auch ein paar Charakterschwächen sichtbar. Hochmut zum Beispiel und ein mittlerer Grad von Größenwahn.INTERVIEW: RALPH BOLLMANN