: Kleiner Junge, großes Rad
RUMMELPLATZ Peter Dörflers Dokumentarfilm „Achterbahn“ über Norbert Witte und dessen unheilvolle Faszination für den Freizeitpark Plänterwald erzählt eine wahre Geschichte, die wie ausgedacht wirkt
■ Spross einer Schaustellerdynastie aus dem Ruhrgebiet, übernahm kurz nach der Wende den Spreepark im Plänterwald in Treptow. Einer der größten Freizeitparks des wiedervereinigten Deutschland sollte entstehen. Nach Konflikten mit den Berliner Behörden und einem Berg Schulden setzte sich Witte mit mehreren seiner Fahrgeschäfte nach Peru ab. Die Rückkehr sollte 2002 mit dem Schmuggel einer Kokain-Ladung erkauft werden. Bei der Aktion wurde Wittes 20-jähriger Sohn Marcel in Peru verhaftet und später zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit besteht im Allgemeinen darin, dass in der Fiktion alles zusammenpasst, während in der Wirklichkeit vieles zufällig scheint. Mit ungläubigem Staunen und einem Grinsen reagiert man auf wirkliche Geschichten, die ausgedacht wirken. Die von Norbert Witte ist so eine Geschichte: Zehn Jahre lang bemühte sich der Rummelplatzkönig vergeblich, den Berliner Freizeitpark „Plänterwald“ zum größten Rummelplatz Deutschlands zu machen. Dann war er pleite. 2002 setzte er sich aus Deutschland ab. Er verschiffte den Großteil seiner Karussells nach Peru. Dort blieb ihm der Durchbruch versagt. Er wollte zurück nach Berlin, das Plänterwaldgelände zurückkaufen. Das Geld dafür sollte mit dem Schmuggel von 180 Kilo Kokain finanziert werden, die er in ein Karussel einschweißen ließ. Auch das ging schief. Norbert Witte wurde in Berlin zu sieben Jahren Haft verurteilt. Seinen damals zwanzigjährigen Sohn Marcel, den er in das Geschäft hineingezogen hatte, traf es härter: er wurde in Peru gefasst und zu zwanzig Jahren in einem der härtesten Gefängnisse der Welt verurteilt.
Es ist „eine dieser Geschichten, die schon beim Lesen wie ein großer, epischer Spielfilm wirken, mit dramatischen Wendungen und tragischen Helden. Eine Geschichte, die so sehr nach Fiktion klang, dass sie für mich gerade als Dokumentarfilm interessant wurde“, sagte der Regisseur Peter Dörfler.
Ohne jeden Kommentar, wie längst in Dokumentarfilmen üblich, und extrem gut geschnitten, wird der Stoff entfaltet und präsentiert. Man begegnet Norbert Witte, der ein bisschen an Bommi Baumann erinnert, als Freigänger der JVA Plötzensee. Er erzählt von seiner „Zwangszwischenzeit“ und wie es dazu kam. Die Stadt Berlin scheint nicht unschuldig an seinem Ruin. Seine Erzählungen evozieren romantische Bilder, wenn er sagt: „Meine Frau ist groß geworden auf einem Autoscooter.“
Der andere Teil, die Geschichte des Sohnes Marcel, ist weniger romantisch. Der Sohn ist in einem vollkommen überbelegten Gefängnis untergebracht. Die Familie muss regelmäßig viel Geld aufbringen, nicht nur um die Anwälte zu finanzieren, sondern auch, um ihm das Überleben im Knast zu sichern. Dass der Vater seinen Sohn mit in diese Geschichte hineingezogen hatte und dass der Sohn, nicht der Vater, in Peru einsitzt, kann Pia Witte ihrem Mann nicht verzeihen.
Das Filmteam begleitet sie nach Peru. Tote Hunde liegen an den Rändern der Straße auf dem Weg zum Gefängnis. Alles ist völlig desolat. Die Passagen, in denen der Sohn erzählt, sind wohl mit verstecktem Tonband aufgenommen. Das Revisionsverfahren hat nichts gebracht und nur Geld gekostet. Dass der Sohn im Gefängnis vergiftet wurde, ist möglicherweise sogar gut, sagt ein Botschaftsangestellter, weil es dazu beitragen kann, ihn nach Deutschland auszuliefern. Nicht nur wegen seiner turbulenten Geschichte ist „Achterbahn“ einer der besten deutschen Dokumentarfilme der letzten Jahre.
Am Anfang und am Ende sieht man Norbert Witte, irgendwie traumverloren wie einen kleinen großen Jungen, auf dem Riesenrad. DETLEF KUHLBRODT
■ „Achterbahn“. Regie: Peter Dörfler. Dokumentarfilm, Deutschland 2009, 88 Min.