: Den Abstand nehmen
„Das Bild der Menschenrechte“ ist ein ambitioniertes Projekt. Seine Autoren erkunden nicht nur Geschichte und Gegenwart der Menschenrechte in Worten, sie stellen eindrucksvolle Fotos gleichberechtigt neben die Texte. Ein gelungenes Experiment
VON RUDOLF WALTHER
Schon rein äußerlich sprengt das Buch fast jeden Rahmen: 700 Seiten stark und zwei Kilo schwer, jedes der Kapitel ist auf andersfarbigem Papier gedruckt, und auf den weißen Umschlag ist in riesigen Lettern „Das Bild der Menschenrechte“ gestanzt. Unkonventionell ist auch der Anspruch. Das Buch über die Menschenrechte versteht sich nämlich als visuelles Lesebuch: Es versammelt nicht nur Gesetzestexte, Dokumente und Analysen, sondern stellt gleichberechtigt Fotos daneben, zumeist von renommierten Magnum-Fotografen. Diese Bilder sind weit mehr als eine Illustration der Texte.
Im knappen, höchst informativen Einleitungsessay skizziert der Staatsrechtler Walter Kälin Entstehung, Wandel, Ziele und Probleme der Menschenrechte. Ihre schriftliche Fixierung fanden sie zwar erst in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO vom 10. Dezember 1948. Ihre Wurzeln reichen jedoch bis ins 18. Jahrhundert zurück, in die Zeit der Aufklärung, als die amerikanische Bill of Rights (1776) und die französische Déclaration des droits de l’homme (1789) entstanden. Diese Erklärungen waren jedoch nur innerstaatlich von Belang.
Die modernen Menschenrechte enthalten dagegen seit 1948 „Rechtsansprüche an den Staat, die dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde dienen“ (Kälin). 1966 wurden die politischen Menschenrechte ergänzt durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Der Pakt trat 1976 in Kraft und wurde bis 1990 von 90, bis 2004 von 150 Ländern ratifiziert. Hinzu kommen ergänzende Spezialabkommen, unter anderem über das Folterverbot (1984) oder die Rechte von Kindern (1989). Um den Schutz der Menschen im Kriegsfall geht es in den vier Genfer Konventionen von 1949 und ihren beiden Zusatzprotokollen.
Die Menschenrechte wie ihr Ausbau sind Produkte von Katastrophen und Krisen. Die beiden Weltkriege haben das Zustandekommen von Menschenrechtsabkommen ebenso befördert wie die Erfahrungen mit dem Kolonialismus oder der Entkolonisierung. Kälin teilt die Menschenrechte in drei Generationen ein. Zuerst entstanden aus den Verfassungen des 18. Jahrhunderts die grundlegenden bürgerlichen und politischen Rechte – wie die Meinungs- und Pressefreiheit. Dann folgten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte – wie das Recht auf Bildung, auf Arbeit oder auf Gesundheit. Diese Rechte sind Folgen der Industrialisierung, der massenhaften Verarmung und der Entkolonisierung. Sie bedeuten nicht, dass der Staat dem Einzelnen Arbeit, Nahrung oder Gesundheit zur Verfügung stellen müsste. Damit wären die meisten Staaten mit Sicherheit überfordert. Aber Staaten müssen ihren Bürgern wie den auf ihrem Territorium lebenden Ausländern einen „diskriminierungsfreien Zugang“ zu Arbeit, Nahrung und Gesundheit gewährleisten.
Die dritte Generation von Menschenrechten zielt nicht auf Individuen, sondern auf Kollektive – so etwa das Recht auf eine saubere Umwelt oder das Recht auf Entwicklung. Ausgestaltung und Reichweite solcher Rechte sind sehr umstritten. Einzig die Afrikanische Menschenrechtscharta von 1981 enthält bislang kollektive Menschenrechte. Nach wie vor fehlen Abkommen, die die Rechte indigener Völker und die Rechte Behinderter weltweit regeln.
Menschenrechte zu formulieren mag schon schwer gewesen sein. Noch schwieriger ist es, dafür zu sorgen, dass sie auch gelten. Die UNO hat Überwachungsmechanismen eingerichtet. Expertengremien wachen über die Einhaltung von Menschenrechten. Die Staaten ihrerseits sind berichtspflichtig. Und schließlich gibt es Menschenrechtsgerichtshöfe: vom internationalen Strafgerichtshof, der schon 1948 geplant war, aber erst 1992 eingerichtet wurde, bis zum Internationalen Strafgerichtshof, der seit 1998 in Den Haag arbeitet, anerkannt von immerhin 93 Staaten – nicht jedoch von den USA, Israel, China und Russland.
Das visuelle Lesebuch präsentiert in neun Kapiteln die grundlegenden Dimensionen der Menschenrechte. Sie umfassen das Recht auf Leben und reichen von den politischen Freiheitsrechten bis zu den Rechten von Frauen und Flüchtlingen. Jedes Kapitel enthält informative Texte zur Problematik und konkreten Ausgestaltung eines Rechts, ferner kurze Erfahrungsberichte von Menschenrechtsorganisationen sowie UNO-Dokumente und Gesetzestexte. Die Textteile werden aufgehellt und gleichsam kommentiert durch Fotos. Darf der Staat töten? Das erläutern zunächst nüchterne Zahlen. Im 18. Jahrhundert gab es 5,5 Millionen Kriegsopfer, allein im Ersten Weltkrieg starben 38 Millionen Menschen, im Zweiten rund 60 Millionen. Im Jahr 2003 wurden in 91 Ländern nachweislich 3.902 Todesurteile vollstreckt. Die Dunkelziffer liegt bedeutend höher.
Fotos von harmlosen Todeszellen stellen einen Bezug her zu der Frage, ob der Staat töten darf. Viele Bilder von hungernden Kindern, von Menschen in Slums oder in primitiven Verhältnissen gehen, was ihre Brutalität betrifft, an die Grenze des Verkraftbaren. In einem klugen Essay weist Susan Sontag jedoch den Vorwurf zurück, solche Fotos beförderten den Voyeurismus der Satten und erlaubten es, „Leiden aus der Distanz zu betrachten“. Sie entgegnet: „Es ist nicht unbillig, Abstand zu nehmen und nachzudenken. Mehrere Philosophen haben es auf diese oder jene Weise zum Ausdruck gebracht: Niemand kann gleichzeitig nachdenken und zuschlagen.“ Bilder, Essays und andere Texte – darunter zwei Parabeln von Alexander Kluge sowie Geschichten von Slavenka Drakulić, Carlos Fuentes und Wole Soyinka – enthüllen die herrschenden Zustände. Mehr kann man nicht erwarten.
Walter Kälin, Judith Wyttenbach, Lars Müller (Hg.): „Das Bild der Menschenrechte“. Verlag Lars Müller, Baden 2004, 720 Seiten, 45 Euro