Verschwiegene Denkkartelle

Akademische Erinnerungskultur in Aachen: Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule beginnt mit sechzigjähriger Verspätung, ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus aufzuarbeiten

AUS AACHENBERND MÜLLENDER

Max Eckert-Greifendorff gehörte zu den angesehenen Honoratioren seiner Zeit und war als Ordinarius für Geographie ein anerkannter Wissenschaftler. Dass der Heimatforscher auch ein „ausgewiesener Hitleranhänger“ war, der schon Anfang 1933 schriftlich zur Wahl des Führers aufrief, hat bislang niemanden interessiert. Jetzt haben drei Historiker der RWTH Aachen das schändliche Wirken ihrer wissenschaftlichen Vorfahren erarbeitet und diese Woche vorgestellt. Dem Altnazi Eckert, dessen Name bis heute eine Straße im Aachener Hochschulviertel ziert, ist eines von 146 biographischen Dossiers gewidmet. Projektleiter Professor Klaus Schwabe sagt: „Wir haben es mit einem Minenfeld zu tun.“

Eine „aktive Unterstützung“ des NS-Regimes fand sich auch bei Albert Huyskens. Der damalige Geschichtsprofessor und spätere Stadtarchivar ist bis heute ebenfalls Namenspate einer Straße und galt bislang, wie bigott, in Aachen als „historisches Gewissen der Stadt“. Noch offensichtlicher ist der naive Umgang mit der braunen Epoche beim Hüttenkundler Professor Paul Röntgen. Er stehe für die „Gratwanderung deutschnationaler Funktionseliten und ihre Einbindung in die NS-Politik“. Röntgen war TH-Rektor 1932-1933 und wurde für dieses Amt ruckzuck 1945-1948 wiedergewählt.

Solche demonstrativen Persilscheine waren beliebt. Den gab es auch für den „aktiven Nationalsozialisten“ und NS-Rektor Otto Gruber, der nach 1945 in den Senat aufrückte. Derartige Reinwaschungen dokumentierten deutlich, so die TH-Historiker, „wie durch Reintegration der Mythos der unpolitischen Hochschule Eingang in das Geschichtsbild der RWTH fand“. Röntgen wie Gruber sind bis heute Ehrensenatoren. In der Festschrift zum 125-Jährigen der TH wurde Röntgen 1995 noch glorifizierend gedankt, „für seine unermüdliche und hingebungsvolle Arbeit, bei der er kein persönliches Opfer scheute, um die Hochschule mit akademischem Geiste zu erfüllen“.

Im gleichen Jahr 1995 war das Bild der heilen Forscher-Welt in Aachen mit einem großen Knall zusammengebrochen. Niederländische Journalisten hatten damals die Doppelidentität des als linksliberal geltenden Germanisten und Ex-Rektors (1970-73) Hans Schwerte aufgedeckt. Der war in Wahrheit SS-Hauptsturmführer Hans Ernst Schneider, der im „Stab beim Reichsführer SS“ arbeitete und die Dienststelle „Germanischer Wissenschaftseinsatz“ leitete. Nach der spektakulären Enttarnung gab es vordergründig einen Schwall von Scham. Hinter den Kulissen der Alma Mater aber hatte ein zickenwürdiges Hauen und Stechen der eitlen Professorenschaft eingesetzt um vermeintliche langjährige Mitwisserschaften, mit gegenseitigen Beschimpfungen und Verleumdungsklagen – in deren Zuge übrigens auch der Autor dieser Zeilen bei der Staatsanwaltschaft aussagen musste, woher er denn welche Informationen habe.

Jetzt haben die TH-Historiker einen Fall recherchiert, den sie „in der Substanz schwerer als den von Schneider/Schwerte“ einschätzen. Der Wasserwirtschaftler Professor Alfred Buntru, in den 30er Jahren Rektor in Aachen, war zwischenzeitlich SS-Standartenführer und in Prag bei der „Germanisierung der tschechischen Universitäten“ tätig, wo er bei der Erschießung antinazistischer Studenten selbst Hand angelegt haben soll. Buntru durfte nach 1945 nahtlos weiter lehren. „Die Netzwerke und Denkkartelle“, so einer der drei TH-Historiker, „haben die politische Kultur des kollektiven Beschweigens noch bis mindestens in die 90er Jahre hinein geformt“.

Buntru ist seit 1959 TH-Ehrensenator – „wegen großer Verdienste und hoher Einsatzbereitschaft“, wie die Festschrift 1995 festhält. Projektleiter Schwabe sagt: „Was sich in bisherigen Festschriften über die NS-Zeit findet, ist eine Katastrophe“. Für ihn übrigens auch eine persönliche: Schwabe war 1995 redaktioneller Leiter der TH-Festschrift.

Der enttarnte Buntru, so der heutige TH-Rektor Professor Burkhard Rauhut, sei „einer der ganz schlimmen Sorte gewesen.“ Dennoch: Eine Aberkennung des Ehrensenatortitels sei ein „zu sehr demonstrativer Akt und nicht geeignet, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen“. Fehlverhalten als historisches Dokument des Versagens: „Wenn wir ihn rauswerfen, würden wir Geschichtsfälschung betreiben.“ Rauhut will lieber „noch genauer gucken, was war und in Zukunft sehr wachsam bleiben.“ Skandalrektor Schwerte-Schneider hängt übrigens weiterhin in der Ahnengalerie der TH – mit dem spitzfindigen Hinweis: „Hans Schwerte, bis 1945 Schneider“.