: Arme Kinder, arme Helfer
Während immer mehr Kinder im Ruhrgebiet in Armut aufwachsen, bricht das Fürsorgesystem auseinander. Der Kinderschutzbund ist vielerorts hoch verschuldet und streicht präventive Projekte
von MIRIAM BUNJES
Essens arme Kinder müssen wieder allein zur Schule gehen. Der Kinderschutzbund musste fast alle Fahrzeuge verkaufen, die sonst Kinder aus so genannten Problemfamilien pünktlich in Kindergärten und Schulen ablieferten. Dabei hatte der Fahrdienst eine Lücke gefüllt, die das Bildungssystem nicht schließen kann. „Um nachzuforschen, warum ein Kind nur unregelmäßig zum Kindergarten kommt, fehlt in der Regel die Zeit“, sagt Hans Peter Metten vom Essener Kinderschutzbund.
Der Kinderschutzbund hat sich diese Zeit genommen – solange das Geld dafür da war. Inzwischen hat der Verein 500.000 Euro Schulden und weiß nicht mehr, wie er aus dieser finanziellen Notlage herauskommen soll. Denn: Der Bund finanziert sich zu rund 80 Prozent aus Spenden und die sind in diesem Jahr bislang komplett ausgeblieben. „Die Menschen haben wahrscheinlich für die Flutopfer in Südostasien gespendet“, sagt Metten. „Und zur Zeit sitzt bei den meisten das Geld nicht gerade locker in der Tasche.“
Auch die öffentliche Hand hat nicht viel zu geben: Das Land hat die Unterstützung der Kinder- und Jugendarbeit stark gekürzt, die Stadt Essen ist selbst hoch verschuldet. „Lange können wir nicht mehr so weiter machen“, sagt Metten. „Noch ein Jahr und wir müssen weitere Projekte streichen.“ Wie zum Beispiel das Kinderrechtehaus oder das Theaterprojekt „Mein Körper gehört mir“, das zur Zeit an allen Grundschulen Drittklässler über sexuellen Missbrauch aufklärt.
Was Essen als Deutschlands größten Kinderschutzbund schwächt, spüren auch die anderen Kinderanwälte der Region. „Wir haben wahnsinnige Spendeneinbrüche“, sagt Friedhelm Güthoff, Landesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes NRW. „Lohnverzichtsrunden sind sowieso üblich, trotzdem mussten vielerorts Mitarbeitern gekündigt werden.“ Mit schlimmen Folgen für die kleinen KundInnen. „Die Kinder und auch ihre Eltern haben schließlich Vertrauen zum jeweiligen Betreuer aufgebaut, wenn der oder die auf einmal nicht mehr da ist, verlieren sie einen wichtigen Bezugspunkt.“ Der Kinderschutzbund wolle außerdem nicht erst handeln, wenn Kinder verwahrlost und verhungert in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses gelandet sind. „Deshalb arbeiten wir oft präventiv, bringen den Kindern Spiele bei, beraten ihre Eltern in Scheidungsfragen“, sagt Güthoff. „Für so etwas sind die öffentlichen Kassen jedoch angeblich leer und wir müssen unsere Arbeit auf unverläßliche Spenden aufbauen.“ Gleichzeitig gebe es immer mehr Hilfebedürftige, die sich an die Vereine vor Ort wenden.
Kein Wunder, denn die Kinderarmut im Ruhrgebiet steigt seit Jahrzehnten. Jeder Vierte unter 18-Jährige lebt in Armut, so der nordrhein-westfälische Armutsbericht für 2004. „Diese Kinder haben ausgesprochen schlechte Startbedingungen“, sagt Volker Kersting vom Zentrum für interdisziplinäre Rurhgebietsforschung. „Schon allein körperlich.“ Kinder aus den Armutsstadtteilen haben schlechtere Zähne, häufiger Haltungsschäden oder Übergewicht als ihre Altersgenossen, stellten die Sozialforscher bei einer Datenanalyse der Schuleingangsuntersuchung in Essen fest.
„Armut wird politisch zu wenig bekämpft“, sagt Kersting. „Es ist genug Geld da, es wird nur schlecht verteilt. Spitzensteuersätze werden gesenkt, Vermögen und Gewinne geschont – ohne dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen und Armut abgebaut würde.“
Die aktuellen Veröffentlichungen zu Armut und Reichtum will der Kinderschutz zum Anlass nehmen, die eigene Not anzuprangern. „Hoffentlich werden wir gehört“, sagt Güthoff.