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Archiv-Artikel

Silikontitten und Schneewetter

Mütter, Männer und Taxifahrer: Der erste Berliner Jammerwettbewerb im Theaterdiscounter bot Zeitjammern, Synchronjammern und Spontanjammern. Es fehlte nur an der Wehleidigkeit des echten ichbezogenen Jammerns

Am Donnerstagabend fand im Theaterdiscounter der erste Berliner Jammerwettbewerb statt. Warum auch nicht? – Gejammert wird schließlich immer, besonders die Deutschen jammern gern, die Ostdeutschen angeblich ein bisschen lieber und die Berliner sowieso. Allerdings handelt es sich beim Jammerwettbewerb nicht um echtes Jammern für Jedermann, sondern um ein inszeniertes Theaterstück. Man hatte für das Stück den Rahmen „Gameshow“ gewählt und – ganz medienkritisch – die Abläufe einer solchen Show imitiert.

Der Moderator im showroten Anzug überzeugt bereits im „Warm up“ durch die schleimige Vertraulichkeit eines Oliver Geissen, gekonnt flirtet er mit dem Publikum und der imaginären Kamera. Das Publikum wiederum darf Vorschläge machen, soll den Sitznachbarn eine Minute lang volljammern, soll per Applausometer die Juryrolle übernehmen. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie brav und begeistert das Publikum bei solchen Spielchen mitmacht. Das Bühnenbild ist schlicht, eine Showtreppe mit Lämpchen umrandet, seitlich dazu eine Couchecke. Drei Topjammerer kämpfen um den Jammerpokal: Der herrlich farblose Gasag-Angestellte Klaus Thomas Maul, die Topmanagerin Susan Schwarz und der junge Deutschtürke Kevin Thierse. Der stellt den gewitzten jugendlichen Unterschichts-Rapper sehr lebendig dar, spricht jammern wie jammen, also „tschämmern“ aus, lamentiert über den Formularstress beim Sozialamt, zu kleine deutsche Kondomgrößen und Obsttüten bei McDonald’s und liegt im Jammercontest bald in Führung.

So jammern alle in verschiedenen Kategorien – Zeitjammern, Synchronjammern, Spontanjammern – drauflos. Dem sprachkritischen Betrachter wird aber bald klar, dass hier die Grenzen des Jammegenres überschritten werden. Das ist kein reines Jammern, es ist eher ein berlintypisches Motzen und Meckern und Sich-Beschweren. Da fehlt die Wehleidigkeit des echten ichbezogenen Jammerns , das wortreiche Beklagen der eigenen schlechten, ausweglosen Situation, das Beweinen einer ungerechten Welt. Das Stück lebt von den Jammervorschlägen des Publikums, so versprechen die Themen „Tod“ und „Hämorriden“ viel, wenn allerdings „Reizwäsche“, „Deutsche Bahn“, „Euro“ und „Männer“ gerufen wird, fallen die Jammertiraden recht stereotyp aus.

Eine Videoeinspielung des Woltersdorfer Channels (WC) führt zwar ein zusätzliches Medium aber nicht unbedingt eine andere Ebene in das Spiel ein. Ausgerechnet die schwächste Figur, die Managerin, verweigert sich plötzlich der Jammerei und so nimmt das Stück eine unerwartete Wendung, bei der leider auch Drive und Dramaturgie flöten gehen. Nur am Ende, als sämtliche Jammerthemen – Silikontitten, Visaaffäre, Schneewetter, Nahverkehr, Taxifahrer, Mütter mit Kinderwagen, Praxisgebühr, Bildungsmisere, Grillverbot – ins Publikum skandiert werden, kommt wieder etwas Schwung ins Jammerspiel .

CHRISTIANE RÖSINGER

Noch einmal heute, 20 Uhr, Theaterdiscounter Monbijoustraße 1, Mitte