: Ungebändigte Kriegsgefahr
Der Konflikt zwischen China und Taiwan wird gefährlich unterschätzt – er ist ebenso virulent wie der im Nahen Osten. Eine Lösung ist nur mit Hilfe der USA möglich
Das Taiwanproblem ist so alt wie der Palästinakonflikt. Seit Entstehung der Nachkriegsordnung streitet der Westen mit China um die politische Zugehörigkeit der Insel. Doch im Unterschied zum blutigen Nahostkonflikt forderte der Streit um Taiwan noch nie eine bedeutende Anzahl von Menschenleben. Das aber ist nicht der einzige Grund, weshalb die Gefahr eines Taiwankrieges heute von allen Beteiligten weitgehend verdrängt wird.
Je näher man den Menschen auf beiden Seiten der Taiwanischen Straße kommt, desto unwahrscheinlicher erscheint ein zweiter chinesischer Bürgerkrieg. Ob einfache Bürger, Unternehmer oder Politiker – bei längeren Gesprächen erkennt jeder den Unsinn der großen Parolen, die Taiwan und China gegeneinander aufhetzen, zumal sich kaum einer dem gegenseitigen Nutzen der blühenden wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen miteinander entziehen kann.
Ähnlich tröstlich ist der gut unterrichtete außenpolitische Blick auf das Taiwanproblem. Diplomaten, die sich seit Jahrzehnten mit dem Auf und Ab der innerchinesischen Beziehungen samt ihrer Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Pazifik beschäftigen, kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass ein Krieg im Interesse keines der Beteiligten ist. Zugleich verweisen sie auf die Genialität des schon 1972 im Schanghaier Kommuniqué zwischen Mao Tsetung und Richard Nixon ausgehandelten Kompromisses zwischen Peking und Washington. Damals erkannten die USA bereits implizit die Ein-China-Politik Pekings an, was sieben Jahre später den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Taiwan und die Aufkündigung des gegenseitigen Verteidigungsabkommens zwischen den USA und Taiwan nach sich zog. Im Gegenzug versprach Peking die „Normalisierung der Beziehungen zu den USA“ und die „Entspannung in Asien“, eine Klausel, die den Verzicht auf eine militärische Option gegenüber Taiwan beinhaltete. Trotz aller Kriegspropaganda und Aufrüstung auf beiden Seiten bewährt sich dieser diplomatische Kompromiss seit nun schon über dreißig Jahren – warum also heute an seiner Beständigkeit zweifeln?
Doch sind es gerade der menschliche Charme der innerchinesischen Verhältnisse, die boomenden Wirtschaftsbeziehungen und das scheinbar für die Ewigkeit geschaffene diplomatische Werk von Mao und Nixon, die den Blick auf die wahren Risiken verschleiern. Denn im Kern bleibt das Taiwanproblem genauso ungelöst wie der Nahostkonflikt, und jede neue Zuspitzung der Lage birgt die alte, ungebändigte Kriegsgefahr.
Nun schienen sich die Fronten gerade zu beruhigen, nachdem die Wähler auf Taiwan im Dezember entschieden, ihrem kurz zuvor gerade erst wiedergewählten Präsidenten Chen Shui-bian die notwendige Parlamentsmehrheit für seine ehrgeizigen Unabhängigkeitspläne der Insel zu verweigern. Chen wollte die aus der Vor-Bürgerkriegszeit datierende Verfassung ändern und den aus der gleichen Zeit herrührenden offiziellen Namen der Insel von „Republik China“ in „Taiwan“ verändern. Doch daraus wird nun nichts, weil die nationalistische Opposition im Taipeher Parlament die Mehrheit behält. Womit die noch junge taiwanische Demokratie erstmals bewies, dass sie auch mäßigenden Einfluss auf das innerchinesische Klima nehmen kann. Zuvor schienen die Wähler mit jeder Abstimmung weiter in Richtung Unabhängigkeit zu driften und damit das Kriegsrisiko zu erhöhen. Jetzt warfen sie ihr Gewicht auf die andere Seite der Waagschale – ein für die Zukunft vielversprechendes Zeichen.
Doch kaum scheint der Unruhestifter Chen fürs Erste gestoppt, legt sich in Peking sein Gegenspieler Hu Jintao ins Zeug, den Konflikt aufs Neue anzufachen. Der KP-Chef geht dabei genauso unbedacht und ausschließlich vom eigenen Machtgewinn getrieben vor wie auf der anderen Seite der taiwanische Präsident. Was für den einen das Spiel mit der Unabhängigkeitserklärung ist, ist für den anderen das Spiel mit der Invasionsdrohung. Auf Chens gescheiterte Pläne einer Verfassungsänderung folgt deshalb nun in Peking die Verabschiedung eines Antisezessionsgesetzes im Nationalen Volkskongress. Damit erteilt das ohnehin einflusslose Scheinparlament der Volksrepublik dem KP-Chef die uneingeschränkte Macht zum Invasionsbefehl – eine Macht, die er im diktatorischen System der KP sowieso innehält. Doch ergeht es Hu wie allen Beteiligten: Er glaubt sich so sicher vor einem Krieg, dass er das Spiel immer weiter treibt.
Immer dreister werden folglich die Invasionsszenarien in der chinesischen Presse durchgespielt, tönen die Reden der Volksarmisten, rasseln die Säbel im Politbüro. Auf Taiwan war das in den letzten Jahren nicht anders: Kaum eine Rede, in der Chen seine Insel nicht zum „unabhängigen, souveränen Land“ erklärte und damit im Grunde den Status quo verletzte.
Welch makabres, weltvergessenes Spiel am Rand des Abgrunds! Es beruht auf der illusionären Regel, dass ein vom Taiwanproblem ausgelöster Dritter Weltkrieg unmöglich ist. Dass Peking und Washington im Ernstfall immer zurückzucken.
Doch gerade das Verhältnis der einzigen Supermacht zum einzig denkbaren Supermachtkonkurrenten des 21. Jahrhunderts ist alles andere als stabil. Schon heute führen beide einen kaum versteckten kalten Krieg um Taiwan: die USA, indem sie die Insel mit U-Booten und einem Raketenabwehrsystem aufrüsten, China, indem es immer mehr Raketen mit Reichweite bis Taiwan stationiert. Zwar ist der alte Ideologienstreit mit dem Kommunismus aufgelöst. Allerdings könnten sich amerikanischer Universalismus und chinesisches Nationalstaatsprinzip auf die Dauer als nicht minder unversöhnlich erweisen.
Höchste Zeit also, das Taiwanproblem zu entschärfen, bevor es zum Stolperstein für die Supermächte wird. Ein innerchinesischer Vertrag müsste die größten Ängste auf beiden Seiten eliminieren, Taiwan also auf seine Unabhängigkeits-, Peking auf seine Invasionsdrohung verzichten. In den chinesischen Hauptstädten reicht die Vernunft dafür derzeit offensichtlich nicht aus. Die letzten offiziellen Gespräche miteinander liegen bereits 13 Jahre zurück. Umso mehr käme es auf Washington an. Lange Zeit hatten die USA als einzige militärische Großmacht im Pazifik kein Interesse, einen solchen Kompromiss zu vermitteln. Nun sind sie versucht, es auf einen Rüstungswettlauf mit China ankommen zu lassen – darauf deutet die jüngste militärische Vereinbarung mit Japan zur Verteidigung gemeinsamer Interessen gegenüber der Volksrepublik. Besser aber wäre es, Washington zwänge China und Taiwan zum Einlenken. Die Vormachtstellung der USA im Pazifik würde dadurch nicht gefährdet, eher im Gegenteil. GEORG BLUME