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Archiv-Artikel

Gas geben ist geil

Zum Geburtstag ein kleines Autorennen unter Freunden gefällig? Immer lieber. Und gegen den Höchstgeschwindigkeitsrausch auf den 36 langen Metern Carrerabahn in Oldenburg hat nicht einmal die Straßenwacht wirklich etwas einzuwenden

Für volles Tempo die Handregler voll durchgedrückt. Die wahren Helden der Piste aber sind die Streckenposten

Von Georg Götz

Mit gut 200 Sachen rast der blaue Ford Taurus dahin, dicht gefolgt von einem Taurus in grün. In der Kurve kann der Fahrer den Wagen nicht mehr kontrollieren, der Wagen überschlägt sich mehrmals, bis er vom Nachfolgenden von der Straße geschubst wird. Totalschaden? Verletzte? Tote?

Da erscheint eine Hand von oben und setzt das Auto wieder in den Slot der Carrerabahn. Die Hand gehört Timo, der begeistert auf die Bahn starrt. Der Physiotherapeut Anfang Zwanzig ist auf ein Fest von Sarah und Ernie eingeladen. Sarah feiert ihren 25., Ernie seinen 27. Geburtstag. Insgesamt sind gut 40 Leute in der Oldenburger Innenstadt zusammengekommen. Dort vermietet „MTS-Racing“ im dritten Stock eines Geschäftshauses eine 36 Meter lange Carrerabahnanlage für Feiern. Alle Gäste sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Die Männer tragen alles von Tattoos bis St.-Pauli-Shirts, die Frauen erscheinen in H&M bis Dezent-Alternativ.

Schon um neun ist die Rennbahn an dem Abend voll besetzt. Das bedeutet: auf jeder der sechs Spuren wird gefahren. Die Bahn übernimmt die Funktion der Tanzfläche in einer Disco: die Leute stehen am Tresen oder in kleinen Gruppen um die Bahn und gucken, was darauf passiert. Mal geht jemand hin, um zu fahren, mal kommt jemand zurück, um zu erzählen „wie‘s war“.

Die Bahn hat Frank Walde, der ebenfalls anwesende Besitzer, auf einer Platte auf Tischhöhe befestigt. Darunter befindet sich Platz für Getränke und für die Stereoanlage, die unablässig den Soundtrack aus Crossover und Hardrock liefert. Wichtigste Komponente ist aber ein Computer, der die Streckenzeit speichert, die schnellsten und langsamsten Runden, und natürlich den Sieger ermittelt. Die Bahn selbst besteht aus einer langen Start-Zielgerade und windet sich dann in Kurven durch den Raum. Diese sind so angelegt, dass kleine Buchten die Zugänglichkeit aller Abschnitte gewährleisten. Liebevoll sind künstliche Büsche ins Kurveninnere gepflanzt. An der Geraden warten Miniaturzuschauer auf der Tribüne und Servicemänner an der Boxengasse. Lediglich ein loses Geländer zeigt seine Sperrholznatur und verrät so Franks Handarbeit. Mehrere Vitrinen an den Seitenwänden mit exklusiven Automodellen von Ninco oder Scalextric sowie mit Bahnsets von Carrera komplettieren das Ambiente.

Um halb elf bittet Frank Walde zum offiziellen Rennen. Je sechs Leute fahren gegeneinander. Wie ein Zeremonienmeister steht Frank inmitten des Runds und erklärt dem ersten halben Dutzend die Regeln. Gefahren werden je drei Rennen à drei Minuten, davor wird jeweils eine Minute eingefahren. Da die beiden mittleren Bahnen die günstigsten Kurvenradien aufweisen, hat jeder Teilnehmer ein Rennen in der Mitte, ein Rennen auf einer zweitäußersten Bahn und ein Rennen ganz außen.

Gebannt starren die Teilnehmer auf den großen Monitor über der Bahn. Dieser zeigt die Startampel. Kaum springt die fünfte und letzte Ampel auf Rot, wird die Bahn unter Strom gesetzt und die Autos starten blitzschnell. Gebannt folgen die Augen der Teilnehmer ihren Autos über die Bahn. Sie können nichts weiter tun, als den Handregler voll durch zu drücken. Kräftige Flüche schaffen Ausgleich. Die Rennen kommen einem ewig vor. Man denkt nur noch in Runden. Panisch werden die Fahrer vor allem dann, wenn ihre Autos aus der Bahn fallen. Sie können ihre Wägen in der Regel nicht selbst zurücksetzen, sondern sind auf Streckenposten angewiesen.

Diese sind die wahren Helden der Rennstrecke. Sie stehen an den neuralgischen Kurven und setzen verunglückte Autos in Sekundenschnelle wieder in die Spur – unter beständigen Zurufen: „Schnell, schnell, der Rote, der Rote! Unter der Brücke! Schnell!“ Im Zweifelsfall ist der langsame Streckenposten oder das Auto schuld an der schlechten Platzierung. Die Ergebnisse der drei Rennen werden miteinander verrechnet. Die beiden Erstplatzierten haben sich für die nächste Runde qualifiziert.

Als die erste Runde vorbei ist, ist es schon nach Mitternacht. Auch Timo und Ernie haben sich für die nächste Runde qualifiziert. Sarah, die Modedesignerin, ist mit der Stimmung „voll zufrieden“, aber etwas traurig, dass nicht alle ihre Freunde kommen konnten. Sie ist noch immer nicht gefahren, obwohl sie glaubt, die Carrerabahn sei kein reines Männerding. Auch Frank Walde meint, dass die Frauen sich am Anfang zwar mehr zieren, aber letztendlich genauso viel Spaß hättten. Und Golo, gerade Streckenposten, schwört, dass seine Freundin Uli „der geborene Rennfahrer“ sei.

Dabei ist die einzige Reminiszenz an „echte“ Autos oder Rennfahrer ein Sofa, das fast ganz aus einer alten Rücksitzbank besteht. Keiner will sich hier über Michael Schumacher unterhalten. Auch die in Deutschland so beliebte Ferrari-Beflaggung sucht man vergebens.

Läden wie MTS-Racing machen Carrerabahnen Frank Waldes Meinung nach wieder „in“. „Die Zwanzigjährigen kennen solche Bahnen ja gar nicht von früher“, so der Enddreißiger. Hilfreich ist, dass der Standort in dem Geschäftshaus fast die gesamte Oldenburger In-Kultur beherbergt: ein Piercing-Studio, ein Secondhand-Plattenladen, ein Geschäft für Skateboards und dazugehörige Klamotten – diese Einbindung in frühere Alternativkultur und heutigen Warenhedonismus bieten andere Rennbahnen nicht.

Offizielle Zahlen stützen die These vom Aufschwung: Gerade wurde bei der Spielwarenmesse Nürnberg vermeldet, dass Autorennbahnen ihren Marktanteil am Spielzeugmarkt im vergangenen Jahr verdoppelt haben. In der Erlebnisgesellschaft sind Carrera-Rennen legitime Freizeitgestaltung für junge Erwachsene – wie Skateboarden, Streetball oder Clubbing. Nicht nur für Familienväter, die sich Monate in den Keller einschließen, um mit Kollegen die ultimative Bahn zu bauen oder die „Norddeutsche Touren- und Sportwagenmeisterschaft“ auszufahren.

Für die Gäste der Oldenburger Party ist es eine Option unter vielen: Nachdem um zwei in der Nacht schließlich das Rennen entschieden ist, gehen Timo und andere noch tanzen. Gewonnen hat das Rennen übrigens Geburtstagskind Ernie. Was für ein Zufall!