Eines Besseren belehrt

Im Jemen versuchen Religionsgelehrte, inhaftierte Islamisten von einem gemäßigten Islam zu überzeugen

AUS SANAA KRISTIN HELBERG

„Nichtmuslime sind Ungläubige und müssen getötet werden.“ – „Und warum?“ – „Weil Mohammed gesagt hat: Verfolgt und tötet sie, bis sie sich zu Gott bekennen.“ – „Das stimmt aber nicht.“ – „Wieso denn nicht?“ – „Weil das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen auf Sicherheit und Frieden beruht. Im Koran gibt es 124 Suren dazu. Nur eine einzige sagt: Bekämpft sie, wenn sie euch bekämpfen.“

Was Hamoud al-Hitar hier beschreibt, ist eine typische Diskussion zwischen Gefangenem und Gelehrtem. Seit September 2002 hat der Leiter des „Komitees für Dialog“ solch hitzige Auseinandersetzungen oft gehört. Mit religiösen Argumenten versuchen im jemenitischen Sanaa er und 30 Imame, inhaftierte Islamisten von ihren radikalen Positionen abzubringen und sie von der Friedensbotschaft des Islam zu überzeugen. Ihr Motto ist: Reden hilft, auch gegen Terror. „Hinter jedem Anschlag steckt eine Ideologie“, so Al-Hitar, „und Ideologien lassen sich nur mit Argumenten bekämpfen, nicht mit Gewalt.“

Der Vorsitzende des Berufungsgerichts der Provinz Sanaa ist zu einem Hoffnungsträger seines Landes geworden. Al-Hitar soll eine Brücke schlagen zwischen gewaltbereiten Islamisten und einem konservativen, aber friedlichen Islam, wie er im Jemen offiziell propagiert und von der Mehrheit der Bevölkerung gelebt wird.

Der Richter sitzt im Besucherraum seines Hauses, auf dem Kopf eine weiße Kappe, auf den Lippen ein Lächeln. „So wie ein Arzt einen kranken Körper behandelt, so wollen wir einen kranken Geist heilen“, erklärt er. Dafür müssen al-Hitars Leute – respektierte und moderate Islamgelehrte – den Hass, den radikale Prediger in den jungen Leuten gesät haben, in Toleranz und Respekt umwandeln.

Ein hehres Ziel. Aber ist das so einfach – lassen sich jahrelang indoktrinierte Extremisten mit ein paar Diskussionsrunden bekehren? „Nicht alle“, antwortet al-Hitar, „aber viele.“ Schließlich gehe es nicht darum, die Leute von ihrem Glauben abzubringen, sondern darum, diesem eine andere Richtung zu geben. „Ihr starker Glaube an Gott und den Propheten Mohammed hilft uns. Denn dadurch haben sie großen Respekt vor theologischen Argumenten“, sagt al-Hitar. Islamisten hätten lediglich ein paar Dinge im Islam falsch verstanden, daher ihre radikalen Ansichten.

Während der etwa acht Monate dauernden Dialogrunden treffen sich Gelehrte und Gefangene fast täglich zu Gesprächen. Meist geht es dabei um drei Themen: das Konzept des Dschihad (des heiligen Krieges), den Umgang mit Nichtmuslimen und die Vorstellungen von einem islamischen Staat. Beide Seiten argumentieren mit Koransuren sowie den Aussprüchen und Taten des Propheten Mohammed. Die Imame bekämpfen die Islamisten also mit ihren eigenen Waffen: dem Koran und seiner Auslegung.

„Wir begegnen einander mit Respekt“, sagt al-Hitar. „Wir hören einander zu und nehmen den anderen ernst.“ Das Ergebnis ist offen. Wer in der Argumentation unterliegt, muss die Überzeugungen der Gegenseite annehmen, so lautet die Abmachung. Al-Hitar bezeichnet das als „Dialog auf Augenhöhe“.

Kritiker sehen das anders. „Wie kann zwischen jemandem, der unschuldig im Gefängnis sitzt, und einem Richter, der ihn freilassen kann oder nicht, ein gleichberechtigtes Gespräch stattfinden?“, fragt Mohammed Naji Allaw von der jemenitischen Menschenrechtsorganisation Hood.

Tatsächlich haben die Teilnehmer des Dialogprogramms in der Regel keine Straftaten begangen, sondern sitzen „präventiv“ wegen ihrer religiösen Überzeugung im Gefängnis. Für eine Verurteilung fehlt jede gesetzliche Grundlage. Al-Hitar hilft dem jemenitischen Staat also aus der Klemme: Statt die Extremisten aus Mangel an Beweisen freizulassen – womöglich weiter radikalisiert durch die unrechtmäßige Inhaftierung –, werden sie zuvor „gedanklich unschädlich“ gemacht.

Woher aber wollen die Propagandagelehrten wissen, dass die Islamisten tatsächlich ihre Meinung geändert haben? „Viele tun nur so, um entlassen zu werden“, vermutet Menschenrechtsanwalt Allaw. Al-Hitar hingegen ist sich sicher, dass die Gefangenen ihre Ansichten aus Überzeugung widerrufen und nicht, um freizukommen. Denn als gläubige Muslime fühlten sie sich vor Gott verantwortlich, und der lässt sich nicht täuschen.

364 Inhaftierte seien inzwischen auf Bewährung freigekommen, sagt Richter al-Hitar. Bevor sie das Gefängnis verlassen dürfen, schwören sie einen Eid auf ihre neuen Ansichten und unterschreiben eine Vereinbarung. Anschließend wird jeder Freigelassene doppelt überwacht: vom Geheimdienst und von den Gelehrten. „Unsere Leute treffen ihre Klienten weiter regelmäßig, um ihre Ansichten zu überprüfen und, wenn nötig, zu korrigieren“, erklärt al-Hitar, „und der Geheimdienst kontrolliert, ob sie sich an die Gesetze halten.“ Bis heute habe keiner der Entlassenen gegen die getroffenen Vereinbarungen verstoßen.

Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Wie kann ein Umerziehungsprogramm mit festgelegtem Ziel ein offenes Ergebnis haben? Was ist, wenn die Islamisten irgendwann besser argumentieren als die Gelehrten? Al-Hitar lacht. Seine Mitarbeiter wüssten, dass ihre Sichtweise des Islam richtig und die Al-Qaida-Ideologie falsch sei. „Die Islamisten sollen uns überzeugen? Unmöglich!“