Schach dem Putin

Mit 41 Jahren fühlt sich Garri Kasparow zu alt für Profi-Schach und will stattdessen in die Politik einsteigen

BERLIN taz ■ Die Emotionen übermannten Garri Kasparow. Der beste Schachspieler aller Zeiten machte seine letzten Züge im spanischen Linares, bevor er sein Geheimnis lüftete. Ohne diese aufrührenden Momente hätte der 41-Jährige gegen den Bulgaren Wesselin Topalow leicht das Remis erzwungen. Doch Kasparow war in einer ausgeglichenen Stellung nicht mehr Herr seiner Sinne und wickelte ohne Not ein Bauernendspiel ab, das er verlor. Im 30. Zug reichte der Russe zum Zeichen der Aufgabe die Hand über das Brett und erklärte dann seinen Rücktritt vom Profi-Schach. „Ich sehe keine sportlichen Ziele mehr für mich“, befand Kasparow. Er will in Zukunft „vielleicht noch zum Spaß ein paar Schnellschach-Partien spielen“. Der Weltranglistendritte Topalow hatte schon vor dem Abgang geahnt: „Es ist klar, dass keiner von uns das erreichen wird, was Kasparow erreichte – aber das Alter lastet auf ihm.“

Bereits zuvor hatte Kasparow als Gewinner des Turniers in Linares festgestanden. Die Plätze dahinter gingen an Topalow, Viswanathan Anand und Peter Leko. Fünfter wurde Michael Adams. Der Brite hatte zwei Tage zuvor als letzter Großmeister Kasparows Genie zu spüren bekommen. Mit einem brillanten Wirbel richtete ihn das „Ungeheuer von Baku“ in nur 26 Zügen hin. Danach fühlte sich Kasparow ausgebrannt: „Die Rückrunde empfand ich wie den Countdown einer Rakete bis runter auf null. Jeden Tag fürchtete ich mich vor einem schlimmen Schnitzer. Nur am letzten Tag, als ich als Sieger feststand, dachte ich nicht mehr an einen Patzer – und prompt passierte er.“

Was für Boris Becker Wimbledon im Tennis, ist für den Weltranglistenersten im Schach Linares: sein Wohnzimmer. Der Moskauer mit dem großen Kämpferherzen baute dort seine beeindruckende Bilanz auf 72 Siege aus. Nur sieben Niederlagen musste Kasparow quittieren. Bei 14 Teilnahmen in Linares siegte er neunmal.

Der Juniorenweltmeister von 1980 in Dortmund feierte in seiner Karriere grandiose Erfolge. Zwei Jahrzehnte lang führte der charismatische Großmeister ununterbrochen die Weltrangliste an. Im Herbst 1985 erklomm der am 13. April 1963 geborene Bakuer als 13. Weltmeister den Schach-Thron. Dem Sieg über Anatoli Karpow sollten noch zahlreiche weitere gegen seinen russischen Erzrivalen in WM-Zweikämpfen folgen. Letztlich wurde Kasparow die Geister nicht mehr los, die er selbst rief: Mit Eröffnungsdatenbanken, die inzwischen Millionen Partien enthalten, trieb der Moskauer die Vorbereitung auf die Spitze. Die ersten 15, 20 Züge spulen die Asse heute dank aufwändiger Computer-Analysen einfach herunter. Es gibt immer weniger Überraschungen. Kasparow sorgte auch mit seinen millionenschweren Wettkämpfen gegen Computerprogramme für Aufsehen. Ausgerechnet er war 1997 der erste Weltmeister, der im Turnierschach einem Rechner unterlag. Wie in Linares kollabierte Kasparow gegen Deep Blue in der letzten Begegnung.

Den Weltmeistertitel verlor er 2000 an seinen Landsmann Wladimir Kramnik. Sieben Jahre zuvor hatte er die Schachwelt gespalten und den Titel in Eigenregie vermarktet. Kramnik wollte ihm ohne Qualifikationsteilnahme keine Revanche geben. An den Weltverband Fide hatte sich Kasparow zwar zwischenzeitlich angenähert, das Duell mit deren Champion Rustam Kasimdschanow platzte jedoch mangels eines Geldgebers. Mit ein Grund für Kasparows Abschied.

Altersweisheit scheint das ergraute Genie ergriffen zu haben. Laut dem englischen Schachportal The week in chess schreibt sich Kasparow „die große Krise in der Schachwelt“ selbst zu. „Ich hoffe, dass mein Abschied dazu beiträgt, dass die Schach-Welt wieder in ruhiges Fahrwasser gerät. Ich fühle, dass ich nicht mehr dazugehöre.“

Der 41-Jährige will nun zunächst die Bestseller-Buchreihe über seine zwölf Vorgänger auf dem WM-Thron beenden. Zudem gedenkt er sich in der russischen Politik zu engagieren. „Ich glaube, jede anständige Person muss Widerstand gegen Diktator Wladimir Putin leisten“, äußerte Kasparow, bevor ihn wieder Sentimentalität ob der alten Bilder in der Hotel-Lobby, die ihn 1990 in Linares mit pechschwarzen Haaren zeigen, ergriff: „Ich wollte mich mit Stil verabschieden und mir nochmals selbst beweisen, dass ich besser als die anderen spiele.“ Beides ist Garri Kasparow in seinem Wohnzimmer gelungen. HARTMUT METZ