Diese Poesie ist ein Klischee

„Wodka Lemon“, ein Film des kurdisch-französischen Regisseurs Hiner Saleem, erzählt von der Trostlosigkeit und Langeweile in den kurdischen Dörfern Armeniens

Die kurdischen Dörfer Armeniens, in denen „Wodka Lemon“ spielt, als eine unwirtliche Gegend zu bezeichnen wäre eine grandiose Untertreibung. Nichts als Schnee und Eis und dazwischen verstreute Häuser, in denen es so kalt ist, dass man sich, weil es da schöner ist, genauso gut auf einen Stuhl im Freien setzen kann, um das zu tun, was man ohnehin die meiste Zeit tut: nichts. Oder auch, was auf dasselbe hinausläuft: Warten. Hamo (Romik Avinian), ein 60-jähriger Rentner, wartet auf seinen Sohn, der nach Paris geflohen ist. Oder er wartet auf einen Brief des Sohnes, mit dem zum Überleben dringend nötigen Geld. Draußen vor der Tür warten die anderen und hoffen, dass sie vom Geld aus Paris etwas abbekommen. Sie werden enttäuscht, genauso wie Hamo. Kein Geld im Umschlag, wieder einmal nur Fotos, das Leben eines armenischen Emigranten in Paris ist kaum weniger hart als das der in der Heimat Verbliebenen.

Jeden Tag besucht Hamo das Grab seiner Frau und begegnet dort der Witwe Nina (Lala Sarkissian). Von Grab zu Grab entspinnt sich eine schüchterne Liebe, Hamos Frau verzieht auf dem Foto, das den Grabstein schmückt, einmal missbilligend ihre Miene. Um überleben zu können, verkauft Hamo seinen Hochzeitsschrank, seinen Fernseher, seine Militäruniform, eins nach dem anderen. Er bezahlt Nina die Bustickets, denn sie ist so arm wie er. Mitten im Schnee verkauft sie Alkoholika, Wodka Lemon vor allem, jedenfalls nennt sie den so, auch wenn er gar nicht nach Lemon schmeckt. Weil das nichts einbringt, muss sie den schäbigen Kiosk schließen, der Besitzer zuckt mit den Achseln. Eine weitere Geschichte, mit etwas kräftigeren Strichen in den Schnee gezeichnet: Hamos Enkelin wird an einen Mann aus Sibirien verschachert, der ihr und ihrem Vater das Blaue vom Himmel verspricht.

Regisseur Hiner Saleem stammt aus dem kurdischen Teil des Irak und lebt heute in Paris. Gerne hätte er in seiner Heimat gedreht, angesichts der politischen Umstände war das jedoch unmöglich. Er kehrte in die kurdischen Dörfer Armeniens zurück, in denen schon sein 1999 entstandener zweiter Film „Passeurs de Reves“ spielte. Sie liegen auf ehemals sowjetischem Gebiet, und die Trostlosigkeit, die über den Menschen und Dingen liegt wie ewiger Schnee, ist die des Gottverlassenen. Die Jungen fliehen oder trinken oder erkämpfen sich das Überleben durch Prostitution. Die Alten blicken stoisch einer Zukunft entgegen, die ihnen kaum mehr als die Auswahl zwischen Verhungern und Erfrieren lässt.

Saleem erzählt die Episoden aus dem tristen Leben seiner Helden lakonisch, verzichtet aber selten auf die Zuspitzung ins Skurrile. Mit einem Bett, das durch den Schnee fährt wie von Geisterhand gezogen, beginnt der Film. Dann klingelt das Telefon, ein großes Ereignis. Man kann bei solchen Szenen an Aki Kaurismäki denken oder auch, wenn etwa am Schluss ein Klavier sich in Bewegung setzt, an Emir Kusturica. Leider fühlt es sich zumeist an wie auf Kaurismäki-Tempo heruntergebremster Kusturica. Man sehnt sich abwechselnd nach der Genauigkeit, die in Kaurismäkis Verlangsamungen liegt, und nach dem trotzigen Überschwang in den Beschleunigungen von Kusturica. Bei Saleem kippt das Skurrile immer wieder in eine falsche Versöhnlichkeit oder jene Form von Poesie, die nichts anderes ist als das Klischee, das unter den gegebenen und vor Augen geführten Umständen am nächsten liegt. EKKEHARD KNÖRER

„Wodka Lemon“. Regie: Hiner Saleem. Armenien/Frankreich 2003