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Archiv-Artikel

Perfide Diskussion

Die Türken in Deutschland haben andere Probleme als Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen. Sie plagen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung

Das Perfide an der Diskussion ist, dass sie die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Türken ausblendetKopftuch tragende Frauen werden herabgewürdigt, beschimpft und beleidigt

In der deutschen Öffentlichkeit ist derzeit ein seltsames Engagement für die Rechte türkischer Frauen zu beobachten. Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen dominieren die Debatte und erhitzen die Gemüter. Wir Türken erschrecken und sehen uns mit einem großen Spektrum salonunfähiger Zuschreibungen konfrontiert: Wir türkischen Frauen führen kein selbstbestimmtes Leben, sind unter der Herrschaft der Männer in unseren Wohnungen eingeschlossen, abgeschirmt von der deutschen Alltagswirklichkeit. Demgegenüber seien unsere Männer im Wesentlichen darauf bedacht, die ihnen eigene Ehre zu verteidigen, welche sich auf ihrer patriarchalischen, gar islamistischen Gesinnung gründet.

Der Vorwurf lautet: Die Türken schotten sich in Parallelgesellschaften ab und pflegen dort ihren archaischen Lebensstil. Durch ihr kulturelles Desinteresse an Deutschland sind sie, zusammen mit der Politik der Grünen und Linksliberalen, Schuld an dem Scheitern der multikulturellen Gesellschaft. Die Türken erscheinen so als die Negation der deutschen Leitkultur.

Neu ist an diesen Vorwürfen allerdings nichts, und es ist verräterisch, dass das Thema gerade jetzt hohe Wellen schlägt. Geht es tatsächlich um Frauenrechte – oder nicht vielmehr darum, mit Predigten über das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft einen Politikwechsel voranzutreiben? Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen hat es seit Beginn der Arbeitsmigration in Deutschland immer wieder gegeben. Sie sind keine neuen Erscheinungen, und immer haben sie nur eine Minderheit von türkischstämmigen Migranten betroffen.

Die Mehrheit der Migranten hat ein ganz anderes Problem: Arbeitslosigkeit. Sie lässt die Türken in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft als Belastungsfaktor erscheinen und grenzt sie somit aus. Es ist bezeichnend, dass in Deutschland Forderungen nach einer Rückkehr von Migranten in ihre Herkunftsländer immer dann laut wurde, wenn die Arbeitslosenzahl anstieg.

Das Perfide an der neu entfachten Diskussion um Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen ist, dass sie die tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Türken in Deutschland vollkommen ausblendet. Gleichzeitig ist sie eine willkommene Gelegenheit, die Versäumnisse der deutschen Integrationspolitik in den Hintergrund treten zu lassen.

Eine solche Bildungs- und Sozialpolitik für Migranten ist zwingend überfällig – aber gerade in Zeiten der schlechten wirtschaftlichen Lage schwierig zu vertreten. Integrationsfördernde Maßnahmen kosten Geld, doch ist die Teilnahme am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nun einmal die einzige Möglichkeit für Migranten, an der deutschen Gesellschaft teilzunehmen.

Demgegenüber zeigt die gegenwärtige Entwicklung, dass die Migranten der zweiten und dritten Generation Schwierigkeiten haben, sich im deutschen Bildungs- und Arbeitssystem zu etablieren. Aufgrund des Strukturwandels im Arbeitsmarkt werden immer weniger unqualifizierte Arbeiter für das produzierende Industriegewerbe benötigt, in dem MigrantenInnen im Vergleich zu deutschen Arbeitskräften bislang überproportional tätig waren. Insbesondere türkische Frauen sehen sich auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter gestellt als ihre deutschen Geschlechtsgenossinnen. Die Folge ist, dass immer mehr MigrantenInnen vom Arbeitsprozess ausgeschlossen werden und sich mit Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert sehen.

Auch bisherige Annahmen, dass die Perspektiven von MigrantInnen auf dem Arbeitsmarkt mit der Güte ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung in engem Zusammenhang stehe, lässt sich nicht aufrechterhalten. Neuere Untersuchungen belegen nämlich, dass selbst diejenigen Migranten, die über einen qualifizierenden Abschluss verfügen, allzu oft ohne einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz dastehen. Dadurch sind Migranten in deutlich höherem Maße einem Verarmungsrisiko ausgesetzt als anderen Gruppen. Gerade dieser Zustand ist Besorgnis erregend, insbesondere da er in der Öffentlichkeit durch die vereinnahmende Diskussion um Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen kaum noch Beachtung findet.

Damit nicht genug: Neben ihrer schlechten schulischen und beruflichen Situation sehen sich Migranten auch in anderen Bereichen ihres Alltags nach wie vor mit massiven Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen konfrontiert. Das belegt auch die neueste von der EU geförderten Studie, welche die Integration von jugendlichen Migranten in Deutschland, Großbritannien und Frankreich im Alter von 16 und 25 Jahren erforschte. Türkischstämmige Jugendliche berichteten in Deutschland im Vergleich zu entsprechenden Gruppen in Großbritannien und Frankreich am meisten von Diskriminierungserfahrungen in der Schule, bei der Lehrstellensuche, bei der Arbeit und im öffentlichen Leben. Vor allem Kopftuch tragende Frauen beklagen, dass sie in der Öffentlichkeit herabgewürdigt, beschimpft und beleidigt werden.

Wenn jetzt also das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft verkündet wird, so wird hier ein Werturteil über die Art und Weise des Zusammenlebens getroffen. Denn zusammengelebt wird nach wie vor, auch wenn das „Multi“ für gewisse Teile der Gesellschaft, die sich auf kulturelle Zuschreibungen konzentrieren, nur schwer erträglich scheint. Gefährlich sind demgegenüber die unter anderem von der Soziologin Necla Kelek in ihrem Buch „Die fremde Braut“ angeregten Abrechnungen mit den „liberalen Deutschen“, die aus Angst, als Rassisten zu gelten, unhaltbare Zustände in den türkischen Communities kritiklos hingenommen hätten.

Zum einen öffnet sie damit im Umkehrschluss Rassismus jedweder Couleur die Tür. Zum anderen waren es gerade die Befürworter der multikulturellen Gesellschaft, die sich noch am ehesten mit der Lebenssituation von Migranten beschäftigten und zumindest bemüht waren, Ursachen von Missständen zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen zu suchen. Gerade die Bemühungen dieser Gruppe und damit eine ganze Tradition von interkultureller sozialer Arbeit, die sich auf die Bedürfnisse von Migranten einstellte, um ihre Lebenssituation zu verbessern, wird auf diese Weise mit einem Handstreich infrage gestellt.

In dieser Debatte, die in der Politik und in den Medien geführt wird, sollten endlich die wirklichen sozialen Probleme von Migranten im Mittelpunkt stehen, ohne immer wieder nur in die alten pauschalen Stigmatisierungen zu verfallen. Sie werden ihre Wirkung einzig als Diffamierungen und Ausgrenzungen entfalten. Dabei sollten Mehrheits- und Minderheitsangehörigen gemeinsam nach Lösungen für Probleme suchen. Nur so kann sich die hiesige Gesellschaft zu einem Einwanderungsland wandeln. Für eine solche Haltung bedarf es aber zunächst des Bekenntnisses, dass auch wir MigrantInnen zu dieser Gesellschaft gehören.

ÜLGER POLAT