BERLIN HEINRICHPLATZ (3) : Das Übliche nervt
Vor dem Bioladen auf der Ecke übergibt sich eine Frau. Es ist ein sommerlicher Nachmittag, die Stühle sind besetzt, der Heinrichplatz liegt ruhig da, seit die Bedienung eben zum zweiten Mal einen Akkordeonspieler weitergeschickt hat. Die Zeitungen verteilen sich unter den einsamen Stammgästen. Die Bedienung trägt Sonnenbrille, ihre Kollegin sitzt bei der Konkurrenz und schlürft ihren sechsten Espresso.
Es ist heiß, und das bedeutet natürlich, dass man wenig Kleider am Leib trägt. Das bedeutet auch, dass man Einblicke bekommt, die man nicht unbedingt haben wollte. Die Schamhaare der älteren Übersetzerin, die mit sehr kurzen Hosen breitbeinig dasitzt. Zum Beispiel. Vor kurzem noch konnte man es nicht abwarten, sich auch nur in den kleinsten Fitzel Sonne zu setzen, jetzt ölt man im Schatten. Ein Yogi mit Mikrofon und Verstärker schleicht vorbei und salbadert etwas von Haaren. Er dreht zur Seite ab. Ein Alleinunterhalter, eine Einmannband mit Fußschlagzeug und Gitarre, setzt sich auf den Platz und beginnt zu lärmen, mit dem Rücken zu uns.
Herumsitzen am Heinrichplatz heißt, Radikalitäten aushalten. Die Schnorrer, Touristen, Hipster, die Abgewrackten, Verpeilten, Alkis, Junkies, die Esos, die ewigen Ökos, die Intellektuellen, die neuen Spießer. Der nicht immer ansehnliche Melting Pot heißt Heinrichplatz.
Der Grummler liest sich halblaut die Zeitung vor. Ich zahle den üblichen Cortado und mache mich auf den Weg. Als ich durch die Oranienstraße gehe –beruhigtes Licht fällt auf die Alt- und Neubauten und das Dazwischen, durch das Autos fahren –überlege ich, dass ich in dieser Stadt nicht lieben kann. Oder nicht in diesem Stadtteil. Der übliche Quatsch eben, den man denkt, wenn das allzu Übliche zu nerven beginnt. Wenn es Zeit wird, ein paar Rituale zu ändern. Vielleicht sollte ich einfach mal das Café wechseln. RENÉ HAMANN