: Penttis Sehnsucht
AUS HELSINKI HEIKE HAARHOFF
„Der Kompaniechef nannte die neue Grenzziehung“, beginnt der Bericht. „Die karelische Landenge und die Gebiete rund um den Ladogasee seien ab sofort sowjetisches Staatsgebiet. Ich musste mich übergeben. Dann lief ich los, nach Hause, aber meine Mutter hatte die Order schon aus dem Radio empfangen. Sie sagte: ,Pentti, binnen zwölf Stunden müssen wir Myllykylä verlassen.‘“
So beginnt der Kriegsbericht des ehemaligen finnischen Soldaten Pentti Mäkinen. Mit ähnlichen Worten endet er. Die Wiederholung ist nicht das Versehen eines alten Mannes. Die Szene hat sich tatsächlich zweimal zugetragen. Zweimal binnen vier Jahren wurde Pentti Mäkinens Familie aus Myllykylä, der Künstlerkolonie in der finnisch-sowjetischen Grenzregion Karelien, nach Helsinki evakuiert. Das erste Mal im Frühling 1940, das zweite Mal im Herbst 1944, jedes Mal auf Geheiß der finnischen Regierung, die Karelien zweimal hintereinander an die Sowjetunion verloren hatte.
Helsinki-Tammisalo, ein gutbürgerlicher Stadtteil im März 2005. Pentti Mäkinen lebt jetzt hier in einem Reihenhaus. Draußen sind es minus zwölf Grad, die Ostsee hinterm Gartenzaun ist zugefroren, der Himmel eisblau. Ein Klima, in dem man mit Gefühlen nicht hausieren geht.
Sechseinhalb Jahre, bis 1945, war Pentti Mäkinen bei der finnischen Armee, das Einzige, was er nicht verloren hat, ist seine Erinnerung. Er hat sie zusammengefasst für die Reporterin, 60 Jahre später, fünf Schreibmaschinenseiten, präzise und analytisch: der sowjetische Angriffskrieg auf das neutrale Finnland im Winter 1939/40. Der Verlust Kareliens und die erste Evakuierung der Künstlerfamilie Mäkinen 1940. Die Zerstörung Myllykyläs durch die Sowjets 1941, die finnische Wiedereroberung Kareliens mit Hilfe Hitler-Deutschlands, die Rückkehr der Familie zu den Ruinen der Künstlerkolonie 1942. Die zweite Evakuierung 1944, der endgültige Verlust Kareliens an die UdSSR im selben Jahr, gefolgt vom größten Flüchtlingsstrom in der Geschichte des Landes.
Pentti Mäkinen hat mehr von sich preisgegeben als üblich unter finnischen Männern im Allgemeinen und finnischen Kriegsveteranen im Speziellen. Er fand, es sei alles gesagt. Und dann öffnet er doch seine Tür: ein hoch gewachsener, sehr schlanker Herr, das Haar weiß und voll, die Garderobe elegant. Am Eingang lehnen noch seine Skier. Sechs Kilometer war er vormittags auf dem Eis unterwegs. Pentti Mäkinen wird in neun Tagen 84.
„Damit sich die Zunge löst“, sagt er und öffnet eine Flasche Armagnac. Er füllt den Weinbrand in Kristallgläser, gekauft in den 50er-Jahren, als er in Rotterdam lebte und dort für die finnische Reederei Finnlines Handelsschiffe baute. Der wortkarge Mann gerät ins Schwärmen. Die ganze Welt habe er dank Finnlines gesehen, Stockholm und Neu-Delhi, St. Petersburg, Paris. Wo immer die Finnen Geschäfte mit dem Schiffbau machten, war Pentti Mäkinen dabei, 30 Jahre, sein ganzes Berufsleben, erst als Ingenieur, später als Direktionsmitglied der Reederei. Ja, er hat sich erfolgreich durchgebissen, er, der nach dem Krieg vor dem Nichts stand: 24-jährig, unqualifiziert, heimatlos.
Nur Myllykylä, das blieb ihm verwehrt. 50 Jahre lang galt ihm schon der Gedanke an einen Karelienbesuch als Tabu. Die Sowjetunion schloss nach dem Krieg mit Finnland Zoll- und Handelsabkommen, für die Zivilbevölkerung blieb die Grenze dicht. Erst als sich die UdSSR Anfang der 90er-Jahre auflöste, stieg Pentti Mäkinen, der Rentner, in den ersten Sonderzug nach Karelien. Das Heimweh war stärker als die Angst, die Verwüstungen noch einmal mit eigenen Augen sehen zu müssen. Denn einen Wiederaufbau hat die Region seit Kriegsende nicht erfahren. Pentti Mäkinen klopft sich auf die Brust. „Myllykylä ist immer noch hier drin.“
Und so lässt man ihm Zeit und den eigenen Blick wandern entlang der Wände. Die sind geschmückt mit Ölgemälden: Myllykylä im Mittsommer, Myllykylä zur Zeit der Schneeschmelze. Ein stattliches Anwesen, vier sehr gepflegte Landhäuser auf einer Hügelkuppe, mit Blick auf Wiesen und karelische Wälder, ein kleines Paradies nahe dem Ladogasee, 200 Hektar insgesamt. Pekka Halonen und Väino Hämäläinen haben die Bilder gemalt, die beiden bekannten finnischen Maler waren mit Pentti Mäkinens Tanten verheiratet. Auf einigen Bildern sind sie zu sehen, junge Frauen in langen Röcken, es ist die Mode kurz nach der Jahrhundertwende, es sind Szenen aus dem Leben einer Großfamilie, einer recht glücklichen Familie, wenn man den Bildern glaubt.
In diese Welt wurde Pentti Mäkinen am 25. März 1921 hineingeboren, als Sohn einer Philosophin und eines Pianisten, als Enkel eines Musikwissenschaftlers, Neffe zweier Maler. In dieser Welt bewegte er sich, als er zur Jahreswende 1939/40 in den Krieg geriet, 18 Jahre alt, mitten in den Abiturprüfungen. Einen Krieg, mit dem er nichts hatte zu tun haben wollen. Einen Krieg, mit dem ganz Finnland nichts hatte zu tun haben wollen. Finnland hatte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs seine Neutralität erklärt. Und Pentti Mäkinen wollte zur Universität gehen. Aber dann griff die Rote Armee seine Heimat an, verlangte, dass Karelien sowjetisch werde. Pentti Mäkinen, der musisch und sprachlich begabte Abiturient, meldete sich an die Front.
Pentti Mäkinen steht auf, bietet noch ein Gläschen Armagnac an. Im Vorbeigehen streicht er liebevoll über die Bilderrahmen. Er ist Ingenieur geworden, musste Geld verdienen. Aber wirklich interessiert hat ihn immer nur die Kunst. Weitere Gemälde aus der Serie hängen heute in finnischen Museen. Hatte Pentti Mäkinen nicht gesagt, alles verloren zu haben im Krieg? Wo hat er dann die Bilder her? Er schaut verständnislos. „Ich habe sie ersteigert, auf Auktionen.“ Auch das schwarze Klavier im Arbeitszimmer, gebaut von seinem Großvater, hat er eines Tages so gefunden. Pentti Mäkinen hat nach dem Krieg gesammelt, was er kriegen konnte an Erinnerungsstücken aus Myllykylä, ohne Rücksicht auf Kosten und Mühen und wie zum Beweis, dass es den Sowjets eben doch nicht gelungen sei, ihn und seine Heimat zu besiegen. Eine geringe Genugtuung, verglichen mit seinem Leid.
Nur drei Monate dauerte der sowjetische Angriff auf Finnland im Winter 1939/40, mit dem Moskau strategisch wichtige Gebiete erobern wollte. Dann war die finnische Armee besiegt. Vorübergehend. 15 Prozent seines Territoriums musste Finnland abtreten, unzählige Finnen mit Hilfe der eigenen Soldaten evakuieren. Das Leid der Besatzung und Vertreibung durch eine fremde Armee wollte die Regierung ihren Landsleuten ersparen.
Es war klar, dass die Finnen zurückschlagen würden, sobald sich die Gelegenheit böte. Sie bot sich bald. Deutschland erklärte der Sowjetunion den Krieg, Finnland gab seine Neutralität auf. „Für uns war diese Allianz doch keine politische Frage“, sagt Pentti Mäkinen, „für uns bedeutete sie ausschließlich Selbstschutz, in dieser Situation“.
In dieser Situation. Seine Eltern mit der Schwester und dem jüngsten Bruder in Helsinki gestrandet, in einem Stadion einquartiert. Flüchtlingslager für die „Evakkos“ gab es in Finnland nicht, anders als später für die Vertriebenen in Deutschland. Die vier anderen Söhne in der Armee. Das Anwesen in Myllykylä von russischen Soldaten niedergebrannt. Der Hunger. Das Gefühl, immer fremd zu bleiben in der Hauptstadt. Der Vater mit Gelegenheitsjobs als Pianist. Natürlich: Um ihr Leben mussten sie nicht fürchten. Aber was war das für ein Leben, ein Leben ohne Myllykylä? Es zog sie zurück, immer. Selbst als Myllykylä nur noch eine Ruine war. Während der Sommer 1942, 1943 und 1944 kehrten sie zurück, wollten zeigen, dass sie nicht einfach weichen würden, versuchten, wenigstens ein kleines Haus wieder aufzubauen. An der Seite der Deutschen war das möglich. Im Winter 1944/45 wollten die Mäkinens endgültig nach Karelien zurückkehren. Die zweite Evakuierung durchkreuzte ihren Plan.
Pentti Mäkinen wirft die Frage selbst auf, sie beschäftigt ihn seit langem, es ist die Frage, ob der Kampf um die eigene Heimat es rechtfertigte, mit den Nazis ein Bündnis einzugehen. Pentti Mäkinen sagt: „Wir haben von Hitlers Gräueltaten nichts gewusst. Zum Glück.“
Pentti Mäkinen ist siebenmal nach Myllykylä gereist seit dem Ende der Sowjetunion. Seine Frau hat das nicht mehr erlebt. Aber er hat darauf bestanden, dass alle seine vier Kinder und sieben Enkel wenigstens einmal mitkamen. Sie sollten erfahren, „dass Karelien ein wertvolles Gebiet Finnlands war“, und dass sich der Krieg dafür gelohnt habe, trotz allem, und obwohl niemand aus der Familie heute dort mehr leben möchte, auch Pentti Mäkinen nicht. Die Kirchen, die Brücken, die Universität und den Bahnhof – alles ließen die neuen Machthaber verfallen. Sie wussten es einfach nicht zu schätzen. Pentti Mäkinen hat wenig Hoffnung, dass sich jenseits der Grenze jemals etwas ändern wird. Er sagt: „Russe bleibt Russe.“