Disziplin, bitte!

Heute wählt der Schleswig-Holsteinische Landtag: Für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren Heide Simonis (SPD) und Peter Harry Carstensen (CDU). Danach wird die alte Landes-Chefin wohl auch die neue sein – wenn die Fraktions-Disziplin stimmt. Aber wie wird die hergestellt?

von Benno Schirrmeister

„Mein lieber Scholli“, sagt David McAllister. „Da werden die Fraktionsspitzen aber viel zu tun haben.“ McAllister ist selbst Chef einer CDU-Fraktion, allerdings nicht im schleswig-holsteinischen Landtag, sondern in dem Niedersachsens. Gerade ist er im Amt bestätigt worden. Und sein Mitleid mit den Kieler Kollegen dürfte sich in Grenzen halten: Schwerstarbeit erwartet seiner Meinung nach die Fraktions-Spitzen von SPD und Grünen. Die müssen nämlich, wenn heute Heide Simonis (SPD) zur Ministerpräsidentin gewählt wird, für die Verlässlichkeit der Landtagsmehrheit sorgen. Insgesamt besteht die aus einer Stimme. Zugesichert wird sie durch eine Tolerierungs-Vereinbarung der rot-grünen Koalitionäre mit der politischen Vertretung der dänischen Minderheit, dem südschleswigschen Wählerverband (SSW). Es müssen also alle an Bord bleiben. „Das setzt“, so McAllister, „ein Riesenmaß an Disziplin voraus.“ Und wie stellt man das her?

Daumenschrauben

„Wir benutzen dafür Daumenschrauben“, sagt jemand aus dem Landtags-Büro von SPD-Fraktions-Chef Sigmar Gabriel. Ein Scherz. Der Gegenstand der für die oft genutzte Metapher Pate stand, wird erstmals 1487 erwähnt – im Hexenhammer, der Anleitung, wie man Hexen ordnungsgemäß verfolgt. Es dient dazu, Finger zu zerquetschen. Im parlamentarischen Geschäft gibt es keine Daumenschrauben. Es gibt nicht einmal einen Steuermann, der, wie beim Rudern, den Takt schlägt. In Kiel ist man derzeit allerdings weniger entspannt als in Hannover und für Scherze nicht zu haben: „Dass Sie diese Frage stellen, zeigt ja, dass sie den Gerüchten über Abweichler auf den Leim gehen“, sagt Fraktions-Sprecherin Petra Bräutigam. Und dass es „keine Methoden der Disziplinierung“ gebe. „Es gibt keinen Zweifel daran“, hat Lothar Hay, der Kieler SPD-Fraktionsvorsitzende, verlautbaren lassen, „dass Heide Simonis am 17. März mit allen Stimmen der SPD-Landtagsfraktion zur Ministerpräsidentin wiedergewählt wird.“ Da kann man drauf wetten. Aber woher diese Gewissheit? Es gab doch auch Genossen, denen eine große Koalition lieber gewesen wäre?

Gewalt ist keine Lösung

Bei Konflikten in der Fraktion gelte im Prinzip dasselbe wie in einer Beziehung, so drückt das Michael Neumann aus, der Chef der Hamburger SPD-Fraktion. Sein Lösungsansatz? „Ich bin fürs offene Visier.“ Es sei wichtig, den Abgeordneten zu vertrauen, und zu verhindern, dass sich Frust aufstaut oder Verletzungen auftreten. „Die Brechstange funktioniert nicht“, sagt auch Stefan Wenzel. „Aber die Frage“, so der Vorsitzende der niedersächsischen Landtags-Grünen, „hat sich bei uns ohnehin nie gestellt.“ Allerdings habe er Fraktionen kennen gelernt, bei denen das versucht wurde, „und das ist immer nach hinten los gegangen“. Wieso? „Diese Fraktionen zerfallen, da steigen Leute aus.“ Man kann auch sagen: Wenn der Leidensdruck zu groß wird, erinnern sich die Abgeordneten an ihre Autonomie. Deshalb ist in Kiel die Frage der Reibungsverluste so spannend: „Warum sollte der SSW“, fragt sich McAllister, „alle unpopulären Entscheidungen mittragen?“

Erinnern, Besprechen, Durcharbeiten

Großes Unisono: Auf die gründliche Vorbereitung kommt es an. Die Experten müssen Sachentscheidungen gut vorbereiten und gut kommunizieren. Bei den einen durchlaufen die Vorschläge der Arbeitsgruppen verschiedene Hierarchie-Ebenen. Bei den anderen wandern sie schneller ins Plenum. Meinungsverschiedenheiten werden ausgetragen. Aber gefälligst intern, sagen die Einen. Meinungsverschiedenheiten werden ausgetragen, sagen die Anderen. Aber bitteschön intern. Vor besonders heiklen Entscheidungen dauern die Sitzungen länger. Bis tief in die Nacht. Bis keiner mehr diskutieren will. Bis die Mehrheit steht. „Herr Hay“, sagt Frau Bräutigam in Kiel, „ist gerade auf Fraktionssitzung.“ Es wird noch eine Weile dauern. Hay hat Simonis die gesamte vergangene Legislaturperiode hindurch die drei Stimmen Mehrheit gesichert, Hay ist seit 1998 Fraktionsvorsitzender „und der kennt seine Abgeordneten sehr gut“, sagt Frau Bräutigam. „Das Wort ‚seine‘ natürlich in Anführungszeichen.“

Vieraugen-Gespräche

Es gibt sie wirklich. Die Formen unterscheiden sich – mal wird der widerborstige Abgeordnete zum latte macchiato eingeladen, anderswo ins Büro zitiert, aber per Telefon funktioniert das nicht, der Augenkontakt ist wichtig. Es geht schließlich um die gemeinsame Sache. Zwar sagt Neumann, er halte „nichts davon, einzelne Abgeordnete ins Gebet zu nehmen“. Aber er ist ja auch erst ein Jahr Oppositionsführer in der Hamburgischen Bürgerschaft. So viele heikle Situationen musste er da noch nicht meistern. Länger im Amt ist Christa Goetsch: Zum Fraktionsvorstand gehörte sie schon, als der Senat noch von SPD und GALiern gestellt wurde. „Bei Konflikten hilft auch schon mal ein Vier-Augen-Gespräch“, weiß sie. Und McAllister pflegt im Hannoverschen Landtag „genauso wie der Fraktionsgeschäftsführer das Prinzip der offenen Tür“. Denn „wenn einer anderer Meinung ist, erwarte ich mindestens, dass er sich dazu bekennt – und das direkte Gespräch mit mir sucht.“

Signal-Abstimmungen

„Er ist ein äußerst unbeliebter Mann“, sagen manche über Holger Astrup. Tatsächlich hat er bei der Wiederwahl zum parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Kieler Landtag nur 21 Stimmen bekommen. Dabei gibt es doch 29 SPD-Abgeordnete. Aber als „das eigentliche psychologische Signal“, das nur Kenner der Kieler Polit-Szene verstehen, gilt, dass er trotzdem das Amt behält. Denn über Astrup sagen auch die, die ihn nicht mögen, dass er „hundertprozentig verlässlich“ sei. Und dass er „seinen Laden absolut im Griff hat“.

Team-Geist

Der Team-Geist ist das Entscheidende. Wie der hergestellt wird? Die Maßnahmen sind vergleichbar mit jenen von modern geführten mittelständischen Unternehmen. Man schafft eine persönliche Atmosphäre. Es gibt neben den Arbeitsterminen gemeinsame Reisen, man geht zusammen ins Restaurant, vielleicht auch mal ins Theater. Je kleiner die Gruppe, desto leichter der Transfer von persönlichem Zusammenhalt und gemeinsamem Abstimmungsverhalten zu managen. „Wir sind nur vier Leute“, sagt Karl-Martin Hentschel, grün, Fraktions-Chef, Schleswig-Holstein. „Da halten sich die Machtphantasien in engen Grenzen.“ Vor der Abstimmung heute ist ihm ohnehin nicht bange. „Zwei der Fraktionsmitglieder werden danach ihr Mandat nieder legen, weil sie Minister werden.“

Das gute, alte Gewissen

Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes, an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Weiß man. Aber was ist dieses Gewissen? In Länderparlamenten „gibt es ja relativ wenige Gewissensentscheidungen“, sagt McAllister in Hannover, fast wortgleich hatte sich die Sprecherin der SPD-Fraktion in Kiel ausgedrückt. Das setzt voraus: Gewissen ist ein klar zu definierender Bereich. Etwas grob gesagt gilt in den Parlamenten: Gewissensentscheidung ist alles was Gott und Gentechnik betrifft. Und wenn ein Abgeordneter aus der Reihe tanzt? „Da sage ich nur: wehret den Anfängen“, so McAllister. Klar: In der Stimmkabine sei jeder mit sich allein. Da gibt’s keine Sicherheit. Aber diese Lücke ist bei entsprechender Vorarbeit nicht so gravierend. „Es geht darum, Mehrheiten effizient zu organisieren“, alles andere hieße Handlungsunfähigkeit, so McAllister. Und ereifert sich, obwohl er sich darüber doch politisch freuen müsste, über Abweichler bei der Reichstags-SPD: „Wie die mit ihren Stimmen umgehen“, sagt er, „finde ich unverantwortlich.“

Harry Peter und der Feuerstuhl

„ER hat einfach ‚Nein‘ auf den Zettel geschrieben“, heißt es aus dem Büro des neuen Kieler CDU-Fraktions-Chefs. Das Nein von Peter Harry Carstensen ist eine recht sybillinische Antwort. Auf welche der beiden Fragen bezieht sie sich? Die erste lautete: Wie er als Fraktionsvorsitzender für ein einheitliches Abstimmungsverhalten sorgt. Die andere: Ob er sich schon Gedanken über den was-wäre-wenn-Fall gemacht hat: Was wäre, wenn er heute überraschend doch eine Mehrheit der Abgeordneten für ihn votiert? „Ich glaube“, sagt die Mitarbeiterin, „er wollte damit sagen, dass er keine Interviews zu dem Thema gibt.“ Was nicht davon zeugt, dass es weitreichende Vorbereitungen für den Fall der Fälle gegeben hat. Die Sondierungsgespräche mit der SPD waren Ende Februar nach zwei Treffs abgebrochen worden. Ergebnislos. Dennoch: Wenn Carstensen auf den Feuerstuhl des Ministerpräsidenten gewählt würde, bliebe ihm nur die Möglichkeit einer großen Koalition. „Wir lehnen eine Minderheiten-Regierung weiterhin strikt ab“, so der FDP-Sprecher. „Schleswig-Holstein braucht stabile Mehrheitsverhältnisse.“