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Archiv-Artikel

Freischaltung des Geistes

Es lebe der Prozess! Und nicht die Jagd nach der Pointe. Für „Impro 2005“ haben die Berliner „Gorillas“ zum 5. Mal internationale Theaterimprovisateure eingeladen. Dem Ruf des Klamauks halten sie die genaue Wahrnehmung entgegen

VON DAN RICHTER

Vor wenigen Wochen lud das Brecht-Zentrum sieben Tage lang zum Thema Sport und Theater ein. Munter und fleißig wurde debattiert, nur leider ziemlich blind. Denn das geforderte Theater, in dem die Zuschauer den Schauspielern, Regisseuren und Produzenten beim Schaffen über die Schultern schauen, in dem sie wie Boxfans kennerhaft mitfiebern über den nächsten Zug, über gelungene Szenen jubeln und über schlechte Szenen stöhnen – das gibt es schon. Von den akademischen Theaterwissenschaften weitgehend ignoriert, erfreut sich Improvisationstheater einer immer größeren Beliebtheit.

Die Berliner können sich glücklich schätzen, dass es über ein Dutzend Improvisationsgruppen in der Stadt gibt. Der Klamaukvorwurf ist zwar nicht immer von der Hand zu weisen. Verfügen Laienensembles erst mal über ein gewisses Repertoire an Games, tendieren sie dazu, diese wieder und wieder aufzukochen. Der skeptische Beobachter muss sich durch Fernsehshows wie „Frei Schnauze“ nur bestätigt fühlen, zumal dort aufs idiotischste zurechtgestutzte Spielformen lediglich als Aufhänger für die debilen Witzreste aus der RTL-Kiste fungieren.

Ein Ensemble, das es verstanden hat, der Verlockung, schnelle Lacher zu erzielen, zu widerstehen, sind die Berliner „Gorillas“. Seit Jahren bemühen sie sich, internationalen Schwung in die deutsche Impro-Community zu bringen, und laden in diesem Jahr zum fünften Mal zum Internationalen Festival für Improvisationstheater in Berlin ein.

Die Frage, die praktisch alle auf dem Festival vertretenen Ensembles umtreibt, ist, wie das Storytelling am angemessensten bewältigt werden kann. Die vielleicht produktivste Gruppe auf diesem Gebiet ist „Unexpected Productions“ um Randy Dixon, die im Laufe der letzten Jahre einen für jedermann zugänglichen offenen Katalog geschaffen hat. Wer einen Abend mit diesem Ensemble genießt, hat die Frage der Impro-Skeptiker, „Und ist das auch wirklich alles improvisiert?“, längst aufgegeben. In einem aufwändigen Akt spielen sie mit ihren kanadischen und englischen Kollegen eine einstündige Shakespeare-Tragödie, in der von der Sprache über den dramatischen Aufbau bis hin zum Shakespeare’schen Humor und Anspielungsreichtum nichts fehlt. Natürlich bangt man mit den Schauspielern, wenn die nächste dramaturgische Hürde ansteht. Und dies ist der Punkt, an dem die Zuschauer den Sportkennern so gleichen. Ein erleichtertes Aufatmen geht durch den Saal, wenn die adäquate Lösung gefunden wurde, ein Stöhnen, wenn die junge Queen stirbt.

Einen eher ungewöhnlichen Weg geht Sten Rudstrøm mit seinem Action Theatre, das einem Steinbruch für Improvisateure gleicht. Die Action Theatre Performance beginnt mit kleinen Bewegungen, die dem Impuls der Situation entsprechend weiterentwickelt werden. So ist das Action Theatre auch immer dann am wirkungsvollsten, wenn es der eigenen Formenkraft vertraut und sich nicht bemüht, den groben Kanten Brot quasi als Zuckerguss mit Pseudogeschichten zu bedecken.

Storytelling kann man hier nicht erwarten, und Rudstrøm versteht sich wohl auch selbst eher als Inspirationsquelle für Kollegen denn als auf unmittelbare Wirkung zielender Darsteller. Rudstrøm erkennt, dass der Impuls des Miteinanderspielens, die Spontaneität nicht den Umweg über die intellektuelle Reflexion nehmen darf, denn dann ist es schon zu spät: Improvisierte Spielzüge auf der Bühne entstehen durch physisches Akzeptieren und Reagieren. Der Geist indes muss freigeschaltet sein für die unmittelbare Wahrnehmung des Moments und die Erinnerung an das Geschehene, nicht aber fürs Vorausplanen. Denn erst die freie Assoziation in Verbindung mit thematischer Wiedereinführung schafft improvisiertes Storytelling.

Die sicherlich ungewöhnlichste Produktion bringt das russische „Teatr 05“. In der Improvisationswüste Russland, wo die führenden Theater noch oft im sowjetischen Modus des „Wir wissen, was für euch gut und richtig ist“ ihr Publikum von der Bühne herab belehren, hat sich der Deutschrusse Jewgeni Gerein vier Petersburger Schauspieler aus dem Teatr na Lejtkom gefischt und mit ihnen ein unglaublich sensibles Ensemble aufgebaut. Frei von jeglicher zirkushafter Theatersport-Anwandlung, hat das Teatr 05 offene Formen gefunden, die selbst für ein deutschsprachiges Publikum zum Vergnügen werden. Während die meisten Impro-Spieler doch früher oder später der Versuchung erliegen, auf die Schlusspointe hinzuspielen, vertrauen die Spieler von Teatr 05 auf ihre Genauigkeit – Prozess- statt Produktorientierung, wie es Jacob Banigan vom kanadischen Rapid-Fire-Ensemble formuliert.

Wir sehen etwa „Ein Tag auf der Bank“, eine poetische und episodische Langform, die den Schauspielern Raum lässt für Details – wie den Zwiespalt, sich nicht sofort erheben zu dürfen, wenn sich ein stinkender Penner neben einen setzt, da man ihm ja nicht zeigen will, dass er ein stinkender Penner ist. Im Publikum ist man indes gebannt, ob das Ensemble es vermag, die Form angemessen zu füllen, denn die Gefahr des Scheiterns, des Abrutschens in Klischees, in Langeweile, in Ungenauigkeit oder Trash ist natürlich stets gegeben. Und so präsentiert sich, wie Eugen Greiner versichert, Teatr 05 in Petersburg eben nicht mit dem großen Zampano-Gestus, dem in Deutschland kaum ein Improtheater widerstehen kann, sondern man sitzt vorher und hinterher schwatzend und trinkend auf der Bühne. Wer mag, kann sich dazusetzen. Uneitler geht es kaum.

Impro 2005, bis 20. März, Infos: www.impro2005.de. Der Autor Dan Richter ist Schauspieler des Berliner Improtheaters „Paula P.“