Deutsche Ökonomen lassen es krachen

„Jenseits des sozialen Marktes“ will Horst Siebert die Marktwirtschaft radikal erneuern. Und Hans-Werner Sinn fragt sich und uns: „Ist Deutschland noch zu retten?“ Aber sicher: Man muss nur die Löhne um 15 Prozent senken – und schon haben wir Vollbeschäftigung. Wenn es nur so einfach wäre

Siebert setzt seine Überzeugungen absolut – und das ist sehr langweilig

VON ULRIKE HERRMANN

Der Exportweltmeister ist gekränkt: Die deutsche Wirtschaft wächst nur noch schwach; im europäischen Vergleich ist sie Schlusslicht. Doch neoliberale Ökonomen wissen, was zu tun ist. Sie empfehlen eine „radikale Erneuerung der Marktwirtschaft“. Dabei scheuen sie keinen Vergleich. So fordert der einstige Wirtschaftsweise Horst Siebert einen „institutionellen Bigbang“; ifo-Chef Hans-Werner Sinn will eine „Kulturrevolution“.

Die Semantik ist jedoch epochaler als die Theorie der beiden Ökonomen. Sie stammt eher vom kleinstädtischen Wochenmarkt: Wenn es ein Überangebot an Äpfeln gibt, dann müssen die Preise gesenkt werden, um alle Früchte loszuwerden. Gleiches gilt bei Sinn und Siebert für den Arbeitsmarkt. Die Löhne müssten nur um etwa 15 Prozent sinken, und schon würde hier annähernde Vollbeschäftigung herrschen.

Wer diesen Theorieansatz näher kennen lernen will, sollte sich für Sinn entscheiden. Denn Sieberts Ausflug in die Region „Jenseits des sozialen Marktes“ ist für Deutsche unergiebig. Das erklärt sich bereits durch die Entstehungsgeschichte: Siebert schrieb zunächst auf Englisch für den amerikanischen Markt. Entsprechend langatmig wird die Geschichte der Gewerkschaften rekapituliert oder erklärt, wie die deutsche Arbeitslosenversicherung funktioniert. Für Amerikaner mag das interessant sein – für Deutsche ist es allzu selbstverständlich.

Vor allem aber missbraucht Siebert sein scheinbar objektives Handbuchwissen, um subtil Meinung zu machen. Wie dies im kleinen funktioniert, zeigt sich etwa bei Sieberts Abhandlung über die deutschen Sozialsysteme, deren Verwaltung angeblich „beträchtliche Kosten“ verursacht. Nämlich rund 21,3 Milliarden Euro oder „5 Prozent der Ausgaben insgesamt“. Das klingt gewaltig, doch vergisst Siebert zu erwähnen, dass der Verwaltungsaufwand privater Krankenkassen bei weit über 10 Prozent liegt. Denn dieser Hinweis würde ja seiner Grundannahme widersprechen, dass Wettbewerb immer effizienter ist.

Siebert setzt seine Überzeugungen absolut – wie sich nicht nur in den Details zeigt, sondern auch bei der Gesamtanlage seines Buches. So kommen Löhne immer nur als Arbeitskosten vor, die gesenkt werden müssen. Dass Gehälter gleichzeitig auch Nachfrage sind, bleibt schlicht unerwähnt. Diese argumentationslose Selbstgewissheit schadet vor allem Siebert selbst: Er ist langweilig.

Anders Sinn: Auch wer seine Theorien nicht teilt, muss zugeben – öde ist er nicht. Die Leser haben Geschmack bewiesen, indem sie gerade seine neoliberale Abrechnung zu einem Dauerbestseller machten, der jetzt auch als Taschenbuch zu haben ist.

Sinns Stärke: Er ist deutlich. Radikale soziale Einschnitte werden genauso radikal benannt. Und anders als viele Mainstream-Autoren nimmt Sinn die Gegenargumente ernst. So widmet er sich breit der These der Keynesianer, dass sinkende Löhne die Binnennachfrage schwächen – oder dass die Arbeitskosten gar nicht das Problem sein können in einem Land, das auf dem Weltmarkt so erfolgreich ist wie Deutschland.

Allerdings hat Sinn die Neuausgaben seines Bestsellers nur oberflächlich aktualisiert. Das ist kein Nachteil für den Leser, denn die offensichtliche Diskrepanz zur Gegenwart erledigt manches Argument von selbst.

So sind die Niederlande für Sinn noch immer ein zentrales Beispiel, wie Lohnmäßigung zu Wirtschaftswachstum führen kann. Die deprimierende Gegenwart hat er nicht berücksichtigt: 2004 wuchsen die Niederlande sogar noch schwächer als Deutschland. Denn die Niederlande exportieren ihre Güter vor allem in die Bundesrepublik – ist hier Krise, dann nutzen auch die relativen Kostenvorteile der Niederlande nichts. Der Absatz stagniert trotzdem. Es ist eben nicht besonders sinnvoll, große Volkswirtschaften mit kleinen zu vergleichen.

Vor allem aber sind Sinns Ratschläge erschütternd simpel. Da die Niederländer etwa 13 Prozent weniger verdienen als die Deutschen, sollen auch wir uns so lange mäßigen, bis wir den Nachbarn eingeholt haben. Obwohl Sinn gern behauptet, in „Wirkungskreisläufen“ zu denken, entgeht ihm völlig, dass die Niederländer deutsche Lohnsenkungen mit weiterem Gehaltsverzicht kontern dürften. So wurde in Holland sehr ausführlich über die neuen Tarifverträge bei Daimler-Benz berichtet.

Ein weiteres Beispiel für die Vergänglichkeit von Thesen: Für Sinn sind viele Unqualifizierte nur deswegen arbeitslos, weil der Abstand zwischen der Sozialhilfe und den untersten Tarifgruppe zu gering sei. Für nur 300 Euro zusätzlich würde doch kein arbeitsloser Single tätig werden. Die Erfahrung mit den ersten 1-Euro-Jobs widerlegt diesen Verdacht auf Faulheit: Die Billigjobs sind heiß begehrt. Liegt es vielleicht doch nicht nur am Preis der Äpfel alias Arbeitnehmer, wenn die Beschäftigung sinkt?

Das wird auch der Praxistext bei einer anderen Prognose zeigen. Denn Sinn glaubt, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe 260.000 neue Stellen bringen wird. Danach sieht es derzeit nicht aus.

Gefahrlos ist vorherzusagen: Es wird nicht lange dauern, bis weitere neoliberale Ökonomen einen Urknall auf dem Apfelmarkt fordern.

Horst Siebert: „Jenseits des sozialen Marktes“. Aus dem Englischen von Stefan Bollmann, 544 Seiten, DVA, München 2005, 29,90 €ĽHans-Werner Sinn: „Ist Deutschland noch zu retten?“. 8. Auflage, 580 Seiten, Ullstein, Berlin 2005, geb. 25 €; als Taschenbuch 13 €