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Archiv-Artikel

Die Bilder sind so aggressiv wie Barsche

Eine Tragödie aus Tansania: Hubert Saupers Film „Darwin’s Nightmare“ handelt vom Fischfang am Victoriasee. Der Regisseur überträgt die Körperlogik des Splatterfilms auf den Dokumentarfilm. Afrika erscheint als Kontinent der Hoffnungslosigkeit und des Todes. Doch wie zwingend ist diese Perspektive?

Mit jedem Schreckensbild stellt Hubert Sauper die eigene Unerschrockenheit von neuem unter Beweis

VON CRISTINA NORD

Eine Krankenstation im Südsudan. Der Boden besteht aus Erde. Betten und Medikamente fehlen. Die Patienten sind Bürgerkriegsflüchtlinge. Sie haben Tuberkulose, Durchfall, leiden an der Schlafkrankheit oder an Amöbenbefall. Sie wirken apathisch, matt, unterernährt. Der sie in einer langen, ungeschnittenen Sequenz filmt, ist der französische Regisseur Raymond Depardon. „Afriques, comment ça va avec la douleur?“ heißt sein Film aus dem Jahre 1996, „Afrika, wie geht’s mit dem Schmerz?“, eine fast dreistündige, subjektiv gefasste Reise durch Afrika. Hier im Südsudan, nach etwa zwei Stunden Filmdauer, nach Aufnahmen im vom Völkermord erschütterten Ruanda, im vom Bürgerkrieg versehrten Somalia, im von Minen entstellten Angola, will Depardon nicht mehr: „Ich sollte jetzt aufhören zu filmen, die Kamera abstellen, Ihnen diese Bilder nicht zeigen.“ Trotzdem dreht er weiter. Warum? Seine Stimme erklärt es aus dem Off. Die Krankenschwester, die ihm die Möglichkeit gewährt, die Station zu besuchen, habe ihn darum gebeten – damit die Situation der südsudanesischen Flüchtlinge ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücke. Der Kommentar aus dem Off begleitet die Bilder: „Jeder Filmemacher“, sagt Depardon, „hat eine moralische Verpflichtung gegenüber der Kameraeinstellung.“ Im konkreten Fall heißt das: Wenn er schon in dieser Krankenstation Aufnahmen macht, dann möchte er darauf verzichten, durch Montage den Zeitablauf zu straffen. Denn sobald sich der Film nicht an die Echtzeit hält, so Depardon, erliege der Regisseur zu leicht der Versuchung, die spektakulärsten Einstellungen auszuwählen.

Einige hundert Kilometer weiter südlich, am tansanischen Ufer des Victoriasees, liegt die Stadt Mwanza. Hier hat der österreichische Regisseur Hubert Sauper den Dokumentarfilm „Darwin's Nightmare“ (2004) gedreht, der heute in die Kinos kommt. Der titelgebende Albtraum ist ein Fisch: der nile perch, im deutschen Sprachraum als Victoriabarsch bekannt. Vor 40, 50 Jahren wurden ein paar Exemplare dieses Fischs in dem ostafrikanischen Binnengewässer ausgesetzt; seither hat er sich radikal vermehrt. Die Pflanzen fressenden Fische hat er ausgerottet, sodass die Algen wuchern. Außer den metergroßen, von den Anwohnern „predator“ genannten Barschen ist nicht viel Fauna übrig – sieht man von den Krokodilen ab.

„Darwin's Nightmare“ lief auf der Filmbiennale von Venedig und hat verschiedene Auszeichnungen erhalten (unter anderem den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm). Das nimmt nicht wunder, da der Film eindringlich auf die Schattenseiten der Globalisierung verweist. Nachdem man „Darwin's Nightmare“ gesehen hat, möchte man weder Victoriabarschfilet kaufen noch eine EU-Wirtschaftshilfe unterstützen, der das Kriterium der Nachhaltigkeit gleichgültig bleibt. Der nile perch ist Exportgut und damit Grundlage einer Industrie, die, darin dem Fisch ähnlich, alle anderen Formen der Existenzsicherung verdrängt hat. Die EU schießt Gelder zu, damit die Fischverarbeitungshallen europäischen Standards genügen. Jenseits des Fischfangs, so machen es die Bilder und die Schriftinserts glauben, gibt es in Mwanza nichts als Prostitution und Waffenhandel. Der schließt sich an den Transport der Fischfilets an. Für diejenigen, die an dieser Produktions- und Verwertungskette nicht teilhaben, bleiben zum Essen die Fischköpfe und die Gräten. Und für die Kinder, die Waisen verunglückter Fischer und der vielen Aids-Toten, bleibt der Klebstoff des Verpackungsmaterials. Den zu inhalieren lindert die Hungergefühle und hilft beim Einschlafen.

Depardons Skrupel – was darf man zeigen, was nicht, welchen Sinn haben Bilder von Armut, Hunger und Krankheit, welche Position nimmt man ihnen gegenüber als Filmemacher ein? – berühren Sauper nicht. Seine Bilder stellen ihre eigene Dringlichkeit aus, indem sie einen unruhigen, schlecht ausgeleuchteten, offenkundig improvisierten look erzeugen. Die Kamera – Sauper führt sie selbst – zoomt sich nah an die Gegenstände heran und scheut dabei auch vor drastischen Effekten nicht zurück. Einmal etwa zeigt eine Großaufnahme die Füße einer Arbeiterin, die in einem Matsch aus Gräten, Fischköpfen und Maden steht. Wenn diese Fischköpfe eine Weile später von Ammoniakdämpfen umweht werden, gewinnt man den Eindruck, geradewegs in die Hölle zu schauen.

Oft entwickeln diese Bilder eine auffällige Affinität zu schleimigen Substanzen, zu den Skeletten der Fische, aber auch zu verstümmelten Körpern von Menschen. In „Kisangani Diary“ (1998), Saupers 45-minütiger Dokumentation über Massaker im Osten Zaires, ist diese Neigung noch ausgeprägter als in „Darwin’s Nightmare“. Die Kamera will von den deformierten Körpern nicht ablassen. Sie nimmt die Greisenhaut der unterernährten Kinder ausgiebig ins Visier, sie schaut sich Todgeweihte an und macht vor Einstellungen auf verwesende Leichen nicht Halt.

Damit folgt Sauper in gewisser Weise der Körperlogik eines Splatterfilms. Er stellt aus, wie Körper ihre Integrität verlieren. Ekelgrenzen werden überschritten, indem voneinander geschiedene Bereiche vermischt werden. Wo die Körper verwundet oder entzündet sind, stülpen sie sich selbst nach außen und lassen den Blick auf ein weiches, undefiniertes Inneres zu. In den ausgezehrten Kindergesichtern vereinen sich Jugend und Alter; die Grenze zwischen Leben und Tod steht ohnehin auf dem Spiel. Von Eliza, der Prostituierten aus „Darwin's Nightmare“, erfährt man gegen Ende des Films, dass sie von einem Freier umgebracht wurde; von den Menschen in „Kisangani Diary“, dass sie von den Truppen Laurent Kabilas ermordet wurden, kurz nachdem Sauper im Frühjahr 1997 gedreht hatte. Man schaut dem Tod bei der Arbeit zu.

Sauper kreuzt das hochgradig fiktionale Splatter-Genre mit dem des Dokumentarfilms. Wenn er dafür Afrika zum Schauplatz wählt, so ist dies insofern konsequent, als der Kontinent immer schon Fantasien vom Herzen der Finsternis entzündete. Sauper bleibt der Perspektive treu, in der Afrika den locus terribilis der europäischen Imagination darstellt. Zugleich kommt es einer Mutprobe gleich, diese Bilder auszuhalten. Man blickt in die Hölle und ist dabei tapfer genug, nicht mit der Wimper zu zucken – so wie Sauper furchtlos genug ist, an den Orten des Elends zu drehen und Zeugnis davon abzulegen. Diese Autorenposition lässt sich häufig in Berichten aus Afrika antreffen, gleich ob diese filmischer, literarischer, essayistischer oder fotografischer Natur sind. Der Schrecken wird ohne Sentimentalität wiedergegeben, knallt dafür aber umso mehr. Und möglicherweise ist es Sauper umso lieber, je lauter es knallt. Denn mit jedem Schreckensbild stellt er die eigene Unerschrockenheit erneut unter Beweis. Wo er die Wahl zwischen einem spektakulären und einem unspektakulären Bild hat, wählt er Ersteres. Darin sind die Bilder von „Darwin's Nightmare“ wie die Barsche: Sie verdrängen, was weniger durchsetzungsfähig ist. Dass es in Mwanza so etwas wie Alltag und Normalität geben könnte, dass selbst das Elend Formen von Würde kennt, das erfährt man aus „Darwin's Nightmare“ nicht.

„Darwin’s Nightmare“ betont die eigene Dringlichkeit, indem er sich eine improvisierte, unruhige Anmutung verleiht

Eben dies einzufangen gelingt anderen Dokumentationen sehr wohl. Raymond Depardon beobachtet immer wieder Situationen, die ebenso schrecklich sind wie das, was Sauper in Tansania und Zaire sieht. Doch wo Sauper klebstoffumnebelte Kinder filmt, zeigt Depardon solche, die mit Hilfe ihrer List und ihrer Hartnäckigkeit Hülsenfrüchte einsammeln, während sie einen Lastwagen mit Lebensmittellieferungen umkreisen. Bei ihm sind die Kinder keine Kadaver in spe, sondern Akteure. Damit entzieht er sich einer Perspektive, in der Afrika der Kontinent der Hoffnungslosen, der Nicht-Subjekte und des Todes ist. Ein Kontinent, in dem unerklärliche Konflikte Millionen von Menschenleben kosten; ein Kontinent, in dem dunkle Mächte miteinander ringen. Nicht zufällig kommt „Afriques, comment ça va avec la douleur?“ auf dem Hof von Depardons Eltern im heimischen Frankreich zum Ende. Afrika wird nicht abgespalten, es wird herangeholt, zumal die Kamerabewegung eine Kontinuität herstellt: In Villefranche-sur-Saône bedient sich Depardon des gleichen 360-Grad-Schwenks, den er zuvor in Angola, Äthiopien oder Somalia zum Einsatz brachte.

Ein anderes Beispiel ist „Nous ne sommes plus morts!“ („Wir sind nicht mehr tot!“, 2000), ein Film über den Genozid in Ruanda, gedreht von dem aus Kamerun stammenden Filmemacher François L. Woukoache. In langen, ruhigen Einstellungen filmt er die Orte, an denen die Hutu-Milizen 1994 die Tutsi ermordeten. Die Natur ist teilnahmslos, das Gras ist gewachsen, die Vögel zwitschern. Doch die Kirchen, in denen die Tutsi vergeblich Zuflucht suchten, sind voller Spuren der Massaker. Woukoache schließt sich einer Gruppe afrikanischer Intellektueller an, die 1998 Ruanda bereist und dabei herauszufinden versucht, wie das Land mit der Erinnerung an den Völkermord umgeht. Die Vorwürfe der Überlebenden an die Besucher sind klar formuliert: Wo wart ihr 1994? Warum hat niemand eingegriffen? Warum waren die internationalen Medien nicht dazu in der Lage, die Geschehnisse abzubilden? Woukoache lässt seinen Gesprächspartnern genug Raum, damit sie aus der Rolle namen- und sprachloser Opfer heraustreten. Mit ihrer Eloquenz und ihren Analysen führen sie jede Vorstellung von dunkel ringenden Mächten ad absurdum. In „Afriques, comment ça va avec la douleur?“ heißt es einmal: „Bevor es Konflikte zwischen Ethnien gibt, gibt es politische Konflikte.“

An einer Stelle liefert „Nous ne sommes plus morts!“ eine Art missing link zu „Kisangani Diary“. Einer von Woukoaches Gesprächspartnern berichtet, wie die Hutu-Milizen, nachdem sie den Völkermord verübt hatten, 1994 in den Osten Zaires flohen. Sie kontrollierten die dortigen Flüchtlingslager, organisierten die Vergabe der Nahrungsmittel, sie rekrutierten und trainierten neue Milizionäre. Ihr Ziel war es, wieder in Ruanda einzufallen.

„Kisangani Diary“ ist zwar genau vor diesem Hintergrund angesiedelt, unternimmt aber wenig, ihn zu beleuchten. Die Informationen bleiben fragmentarisch. Die Menschen in den Flüchtlingslagern seien „vom Rest der Welt abgeschrieben“, heißt es zu Beginn, denn sie würden kollektiv des Völkermords bezichtigt. Die Hilfswerke hätten sich zurückgezogen. Dass dieser Rückzug unmittelbar mit den Aktivitäten der Milizen zu tun hatte, erfährt man nicht. Häufig ersetzt die Schwarzblende jede Form der Kontextualisierung, und noch häufiger ersetzen die schockierenden Bilder die Erklärung. Das Problem von „Kisangani Diary“ manifestiert sich am deutlichsten, wo lückenhafte Information und grelle Bilder aufeinander stoßen: Das eine macht das andere umso fragwürdiger. Wer demgegenüber auf der Kontextualisierung beharrt, hat die Massaker, die schließlich die Truppen Laurent Kabilas an den Flüchtlingen verübten und denen Saupers Interesse gilt, noch lange nicht verharmlost. „Niemand weiß“, heißt es einmal, „was hier passiert.“ Niemand muss in dieses Raunen einstimmen.