Herr und Hund auf der Couch

Diese Super-Nanny ist männlich und erzieht keine Kinder, sondern Vierbeiner. Wer in einen der Vorträge des Tierpsychologen Martin Rütter geht, hat meist nicht nur ein Haustier, sondern auch ein Problem

VON CORNELIA KURTH

„Mein Gott! Das wird mir zu viel …!“ Die Frau im Publikum stöhnt aus tiefstem Herzen auf. Sie ist gewiss nicht die Einzige, die während des Vortrags von Martin Rütter ständig von einer Stimmung in die andere fällt. Oft wird so sehr gelacht, dass Kabarettisten vor Neid erblassen könnten. Und dann wieder macht sich eine eigenartige Betroffenheit breit, nachdenklich wiegt man den Kopf, und überall in der Luft liegt der Gedanke „Mein Gott – so viel muss man tun?“ Es geht um Hunde und darum, wie man gut mit ihnen zusammenleben kann. Um Hundeerziehung. Und eigentlich auch um die Erziehung von Hundebesitzern.

Martin Rütter ist Tierpsychologe, und Hunde sind sein Spezialgebiet. „Aber ich habe auch ein Faible für Menschen“, sagt er. Das muss er auch haben: Ohne ein gutes Maß an Menschenliebe könnte er sicher nicht all die wunderlichen und oft genug total verkorksten Beziehungen zwischen Mensch und Hund ertragen, mit denen er sich von Berufs wegen abgibt. Zwar erzählt er in seinen Vorträgen rund um das Thema „Alltag mit dem Hund“ so amüsant von typischen Problemsituationen, dass der Ernst der Sache erst mal in den Hintergrund tritt. Es ist dann einfach komisch, wie manche Hunde ständig ihre Herrchen anrempeln wie ein Schuljunge den anderen. Man kann lachen über das Frauchen, das keinen Schritt in der Wohnung machen darf, ohne vom Hund verfolgt zu werden.

Und lustig ist es auch, wenn Martin Rütter den Kopf schief legt, seine großen dunklen Augen noch größer werden und er so tut, als sei er ein Hund, der auf einen imaginären Braten starrt, den sich sein Besitzer gerade in den Mund stecken möchte. „Was du da isst, gehört eigentlich mir!“, übersetzt er aus der Hundesprache, und das Publikum ist begeistert – umso mehr, als es über sich selbst lachen darf. Denn fast jeder Zuhörer von Rütters Vorträgen besitzt selbst einen Hund.

Etwas anders fühlte man sich als Zuschauer seiner WDR-Fernsehreihe „Eine Couch für alle Felle“. Wenn Martin Rütter Hausbesuche macht bei Hundehaltern, die mit ihrem Tier nicht klarkommen, und man Zeuge wird, wie die Hunde Türrahmen und Sofas zerbeißen oder beim Spaziergang den Menschen hinter sich herzerren, wie sie entwischen, sobald die Haustür geöffnet wird, und sich insgesamt so überhaupt nicht darum scheren, was ihr Mensch von ihnen verlangt, dann dauert es nicht lange, und man verabscheut von seinem Fernsehsofa aus die besonders ungehorsamen Hunde und verachtet die besonders unbeholfenen Besitzer, wie sie herumbrüllen und sich nicht durchsetzen können.

Diese durchaus beschämenden Gefühle legen sich erst (ähnlich wie bei den „Super-Nannys“ auf RTL und Sat.1, bei denen es um renitente Kinder und inkonsequente Eltern geht), wenn es dem geduldigen Tierpsychologen hier und da gelingt, den gordischen Knoten von Missverständnissen zwischen Mensch und Hund zu durchschlagen.

Oft aber kann es ihm nicht gelingen, weil gerade die verzweifelten Hundebesitzer gar nicht mitspielen. Viele nicken rasch zu den Ratschlägen, aber man sieht schon der Art ihres Nickens an, dass es niemals was wird: Jemand, der seinen Hund mit den Worten „Komm zu Papa!“ ruft, will gar nicht die Konsequenz aufbringen, die es braucht, um eingefahrenes Fehlverhalten zu ändern. Wo Hunde nicht nur auf den Sofas, sondern auch auf den Besitzern liegen dürfen, ist nicht zu erwarten, dass das Haupterziehungsmittel, nämlich das Tier in vielen Momenten einfach zu ignorieren, verfängt. Und wo es heißt: „Was, mein Liebling soll nicht fressen, wenn es ihn gelüstet?“, wird der Hund das Sagen behalten.

Dabei will kein Hund die Weltherrschaft“, sagt Martin Rütter. „Im Gegenteil: Hunde wollen Grenzen! Sie brauchen Grenzen! Sie sind frustriert ohne Grenzen! Was meinen Sie, wie es ein Tier stresst, wenn es sich getrieben fühlt, den ganzen Tag seine Menschen zu kontrollieren und zu dominieren. Hunde müssen kapieren, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie sich mal raushalten. Und dazu gehört, dass sie kapieren: Ich bin hier – zum Glück! – nur Nummer zwei.“

Das bedeutet nicht, wie viele meinen, der Mensch habe die Rolle eines „Alphatiers“ in einer Art gemischtem Rudel zu übernehmen: „Das ist absurd! Paart sich der Mensch etwa mit dem Hund? Na also!“ Es bedeutet nur, dass der Hundebesitzer und nicht der Hund die Rolle des verantwortlichen Erwachsenen übernimmt: Dem Menschen gehört das Revier, er bestimmt, wann wer wohin geht, wann es was zu fressen gibt, wann Spiel angesagt ist und ob es den Hund etwas angeht, wenn es, zum Beispiel, an der Tür klingelt.

Sonst nämlich läuft das so: Es klingelt. Was auch immer der Hund gerade macht, er unterbricht es und rast durch die Wohnung, um als Erster an der Tür zu sein und wie verrückt zu bellen. Dem Besucher draußen wird ein wenig unbehaglich zumute, hört er doch die hilflosen Rufe: „Aus, wirst du wohl! Aus!“, und weiß, dass er, kaum eingelassen durch die nur haarbreit geöffnete Tür, vom Dackel oder auch dem Schäferhund angesprungen, abgeschnüffelt und abgeleckt wird. Schön ist das nicht und meistens auch nur die Einleitung zu einer Begegnung, von der der Hund glaubt, sie gälte eigentlich ihm.

„Oft ist der Wurm schon drin, wenn ein Welpe den ersten Tag in seiner neuen Familie verbracht hat“, erläutert Rütter – und schildert einen Begrüßungsvorgang, den offensichtlich die meisten Hundehalter so oder ähnlich selbst veranstalten: Während das junge, fremde Hündchen ganz zurückhaltend und schüchtern ist und sich am liebsten nicht von der Stelle regen will, steht es im Mittelpunkt des Entzückens seiner neuen Besitzer, wird durch alle Räume geführt, mal hier auf einen Sessel oder da auf ein Bett gelegt, und natürlich bringt man ihm was zu fressen herbei. Der Welpe aber ist gar nicht in der Verfassung dafür. Man holt Verschiedenes aus dem Kühlschrank, doch wieder lehnt der Kleine ab. Schließlich probiert man es mit Milch, und irgendwann, so Rütter, ist es so weit: „Huch, denkt der Hund. Alles gehört mir?“

Wäre das Hundekind ein Adoptivkind in einem Hunderudel, kämen die anderen Mitglieder keineswegs herbei, um ihm ihre Knochensammlung zu schenken; im Gegenteil, sie würden ihn nach einem ersten freundlichen Beschnüffeln deutlich auf Distanz halten, und der Kleine erwartet auch nichts anderes. Erst nach und nach, zwei oder drei Wochen später, darf er sich freier im Revier bewegen, wenn ihm die Herrschaftsverhältnisse eindeutig klar geworden sind.

Bei den Menschen aber geht es genau umgekehrt zu, und die Vorstellung, welche Mühe es macht, solche Erziehungsfehler zu korrigieren, macht, dass Martin Rütters Publikum nicht nur lacht, sondern auch stöhnt.

Am Fallbeispiel des Hundes, der immer als Erster an der Tür sein will, macht der Tierpsychologe deutlich, dass Umerziehung erstaunlich viel mit Umkonditionierung zu tun hat. Der Besitzer soll es viele, viele Tage lang täglich zigmal an der Tür klingeln lassen, ohne darauf zu reagieren oder gar die Tür zu öffnen. Seinen spektakelnden Hund ignoriert er dabei ungerührt, so lange, bis das Tier resigniert mit dem Spektakel aufhört. (Nützlich ist dann eine Leckerli-Belohnung, denn, so der Psychologe, ohne Leckerli geht meistens gar nichts.) Echte Besucher werden instruiert, nicht auf das Tier zu reagieren, mit keinem Wort, keinem Blick und keinem Streicheln. Und wenn der Familienvater nach Hause kommt, dann soll er nicht wie üblich erst den Hund fünf Minuten lang abknuddeln, um dann seiner Frau ein kurzes „Hallo“ hinzuwerfen, sondern es genau umgekehrt handhaben. „Sechs Wochen, und der Hund gähnt nur noch müde, wenn Besuch kommt!“

„Sechs Wochen?!“, hört man aus dem Publikum. Aber da ist der sonst so charmante Martin Rütter plötzlich ganz streng. „Wer keine Zeit für die Erziehung eines Hundes hat, der soll sich lieber einen mit Knopf im Ohr besorgen!“ Ganz klar macht er, dass viele Hunde auch deshalb Unsinn treiben, weil sie sich langweilen und völlig unterfordert sind. „Ein Hund soll arbeiten! Er hat das Recht auf Arbeit!“ Wenn er schon nicht Schafe hüten oder Wild aufspüren kann, dann lernt er vielleicht, zwanzig kleine Bälle in den jeweils richtigen Eimer zu stecken. „So etwas macht ihm Spaß, dann ist er ausgelastet und lässt das Sofakissen in Ruhe.“

Ach, der Mann hat so viele so tolle Tipps, und es ist gewiss kein Wunder, dass die Menschen in seinen meist restlos ausverkauften Vorträgen bereit sind, sich zumindest vorzustellen, was wäre, wenn man all seinen Ratschlägen auch wirklich folgte. Zum Beispiel dem, ein Tier, das Angst vorm Autofahren hat, stundenlang in der Gegend herumzukurven, immer wieder, bis es keinen Grund mehr findet, sich aufzuregen; oder der Idee, ganz eiskalt „die Kaffeemaschine wieder anzuschmeißen“, wenn ein Hund mit nervendem Ungestüm auf den Spaziergang drängelt; oder, wenn ein Tier aus dem Garten nicht ins Haus kommen will, kurzerhand alle Türen zu schließen und die Rollos runterzulassen.

Natürlich weiß Martin Rütter auch, dass nicht nur Unerfahrenheit oder Bequemlichkeit hinter der oft unbewussten Weigerung steht, einen Hund konsequent zu erziehen, sondern der Wunsch, den Hund „lieb“ zu behandeln und von ihm geliebt zu werden. Wie soll man es, fragen sich die Hundebesitzer bisweilen erschrocken, übers Herz bringen, einen um Aufmerksamkeit bettelnden Hund einfach zu übersehen? Oder ihn dazu zu bringen, in einer „Ruhezone“ zu bleiben, wenn er doch so gerne herumtoben möchte?

„Einen Hund so zu erziehen, dass es ihm gut geht, das ist die wahre Liebe“, sagt der Tierpsychologe. „Schmusen und knuddeln? Unbedingt! Aber es ist wie in der Kindererziehung: Es muss Regeln geben, sonst schlägt die Liebe leicht in Verzweiflung um. Regeln sind keine Unterdrückung, im Gegenteil. Hunde, die gelernt haben, Regeln einzuhalten, können viel freier sein als solche, die man am Ende wegsperrt oder aussetzt, weil man ein Zusammenleben mit ihnen nicht erträgt.“

CORNELIA KURTH, 44, ist freie Journalistin und lebt mit Kind, aber ohne Hund in Rinteln