Honig statt Ironie

Kein Trash, viel Seriosität und ein Uwe Tellkamp, der von seiner professionellen Fan-Gemeinde innigst umarmt und ikonisiert wurde: Die diesjährige Leipziger Buchmesse war eine unspektakuläre, nicht wirklich zwingende Ausgabe und trotzdem erfolgreich und außergewöhnlich gut besucht

Mit Tellkamp geht es jetzt gegen die Spaßguerilla, die Ironie und die 68er mit ihren Wohlstandshintern

VON GERRIT BARTELS

Es macht fast einen bemitleidenswerten Eindruck, wie Benjamin v. Stuckrad-Barre da so allein auf seiner Tasche sitzt und auf den ICE nach Berlin wartet: Auch der einstige Großpopliterat hat anscheinend Leipzig seine Aufwartung gemacht, genau wie letztes Jahr, wo er peinliche, aber medienwirksame Auftritte bei den Buchvorstellungen von Udo Lindenberg und Helmut Kohl absolviert hatte. Diesmal jedoch will niemand die Anwesenheit des allerdings ohne ein aktuelles Buch ausgestatteten Stuckrad-Barres bemerken, was gut ins Bild dieser Frühjahrsbuchmesse passt: Sie war eine unspektakuläre, eine nicht wirklich zwingende Ausgabe und trotzdem eine erfolgreiche und gut besuchte.

Wie schon zuletzt in Frankfurt fiel auf, dass der zu Beginn der Nullerjahre anschwellende Trash-Faktor kleiner geworden ist, dass Pierre Brice, Cherno Jobatey oder Johanna v. Kocian nur kleine Nummern sind im Vergleich mit Muhammad Ali, Dieter Bohlen und Naddel. Es mag da ein Gewöhnungseffekt eingetreten sein, vielleicht hat das Publikum gar gemerkt, dass in den Promibüchern nichts drinsteht. So bekamen in Leipzig wieder Autoren und Autorinnen wie Michael Schindhelm, Mascha Kurtz, Irina Liebmann oder Hans Pleschinski ungeteilte Aufmerksamkeit, und so konnte selbst ein Hermann Kant mit seinem neuen Buch „Kino“ die Arena der Leipziger Volkszeitung gewissermaßen ausverkaufen.

Einen Großteil der Besucher machten im Übrigen junge Menschen aus, Schüler und Schülerinnen, die zumindest am Freitag wohl schulfrei bekommen hatten. Ob sie aber wirklich die nach dem Pisa-Desaster sehnlichst herbeigewünschten Leser und Buchkäufer von heute und morgen sind, sei dahingestellt –ein Event wie eine Messe entwickelt doch eine andere, eigene Attraktivität, als sich viele stille Stunden mit einem Buch zu beschäftigen. Zu Skepsis gibt da ebenfalls eine Meldung Anlass, die dieser Tage über die Ticker der Nachrichtenagenturen lief: Laut einer Statistik der Arbeitsgemeinschaft Jugendbuchverlage hat 2004 nur jedes dritte Kleinkind in Deutschland ein neues Bilderbuch erhalten.

Im überall lesenden Leipzig interessiert so was nicht mal am Rande, obwohl die Zuschauerzahlen bei mancher Lesung zu wünschen übrig ließen und darauf hinwiesen, dass „Leipzig liest“ mit seinen über 1.500 Veranstaltungen an den mitunter ungewöhnlichsten Orten an seine Auslastungsgrenzen gekommen zu sein scheint. Bei Alban Nikolai Herbst etwa fanden sich im Schumann-Haus ganze elf zahlende Gäste ein, die Vorstellung von Jörg Magenaus schöner und monumentaler Martin-Walser-Biografie wollten in der Bibliothek Südvorstadt nur fünfzehn Menschen verfolgen, und auch die Betreiber der Literaturzeitschrift Edit rieben sich die Augen, als bei der Lesung von Uwe Tellkamp der sonst regelmäßig bei Edit-Veranstaltungen aus allen Nähten platzende Vorleseraum der Hochschule für Grafik und Buchkunst nur mäßig gefüllt war.

Was umso erstaunlicher ist, da Uwe Tellkamp mit seinem Roman „Der Eisvogel“ der in den Zirkeln des Literaturbetriebs am kontroversesten diskutierte Autor war. Von Unverständnis und heftiger Ablehnung über zwiespältig-freundliche Aufnahme bis zu totaler Begeisterung reichte das Meinungsspektrum in den allseits termingerecht veröffentlichten „Eisvogel“-Rezensionen. Wer aber die Begeisterung nicht teilte und den Roman nur aufgeblasen und verschmockt fand, wunderte sich vor allem darüber, wie sehr Tellkamp von seinen professionellen Fans heftigst umarmt und geradezu ikonisiert wurde. Verlagsmitarbeiter feierten das Buch als eines, das „die Welt, in der wir leben, ja, das die tiefsten Tiefen dieser Welt ausleuchtet“, so mancher Kritiker sah jugendliche Rebellionen am deutschen Horizont aufziehen und blendete die deutsche Realität (Politikverdrossenheit, hohe Arbeitslosenzahlen) in Tellkamps Prosa und vice versa; einer lobte gar ungebrochen Tellkamps Freilegen von urdeutschen Mythologen (Landschaft!) und zitierte begeistert einen tatsächlich unglaublich schrecklichen Satz aus dem Buch: „Wir folgten der Nagold, aßen Kornäpfel und saugten den Honig aus Taubnesselblüten, die an den Feldrainen so dicht standen, daß die Hummeln darüber in der Entfernung wie ein träge dünender Teppich wirkten“; und wieder ein anderer feierte Tellkamps „neue Ernsthaftigkeit“, seine Ironiefreiheit und Pathos und stampfte schweren Schrittes durch die Gegenwart: „Wir haben genug von der Spaßgeneration, von all den Harald Schmidts, die jede Geschmacklosigkeit für doppeltironisch und deshalb gerechtfertigt halten.“ Bei solchem Überschwang und solchen Abrechnungsfantasien lehrt einen Tellkamps Fangemeinde geradezu das Fürchten: Ein neuer literarischer Heiland ist uns geboren! Und nicht nur ein literarischer, sondern ein ordentlich nationalbewusster dazu, und mit diesem können wir sie endlich hinwegfegen, die Spaßguerilla, die Ironiker, die alten 68er mit ihren „Wohlstandshintern“!

Auweia. Reaktion und Neokonservatismus ist verstärkt wieder im Haus. Zuweilen war man gar geneigt, Tellkamp vor so viel Vereinnahmung in Schutz zu nehmen. Doch will er sich gar nicht so richtig dagegen wehren: Bei seinen Messeauftritten sprach er davon, dass er wohl sein Leben lang auf der Suche sein werde nach einer „gesellschaftlichen, privaten und alltäglichen Utopie“, oder auch dass nicht mehr ironisch sein und Witzchen machen könne, wer in der Notaufnahme eines Krankenhaus Schwerverletzte versorge. Tellkamp ist im Erstberuf Arzt und arbeitet in der Unfallchirurgie. Dass Ironie und das Dasein eines Mediziners nicht notwendigerweise kurzgeschlossen werden müssen, sei hier nur kurz erwähnt und auch, dass die Tätigkeit des Arztes nicht unbedingt mit übermäßig viel Philanthropie einhergehen muss.

Bloß gut, dass die Welt, in der wir leben, oft ganz, ganz anders aussieht als bei Uwe Tellkamp und dass es auch in der jungen deutschen Literatur zuletzt weit weniger hochtönige Romane gab, die die Welt, in der wir leben, weit komplexer dargestellt haben als Tellkamps vermeintlicher Gesellschaftsroman: Norbert Zähringers „So“ etwa oder André Kubiczeks „Die Guten und die Bösen“. Nüchtern der eine, satirisch und ironisch der andere, ohne dass ihnen das etwas von ihrer Schönheit und Wucht genommen hätte.

Und bloß gut, dass trotz der Tellkampereien anderes zur Sprache kam, was die Welt, in der wir leben, auch nicht schlecht abbildet. So erzählte ein jetzt auch schon fast 50-jähriger Popschriftsteller bei Bier und Rotwein im „Paulaner“, der Absturzklause für den Literaturbetrieb, dass er neulich dem 19-jährigen Freund seiner Tochter das erste Album von Television zum Geburtstag geschenkt hätte.