: Mutmacher für Steinmeier
Vor 500 Jahren, am 10. Juli 1509, wurde Johannes Calvin im französischen Noyon geboren. Er wäre nur als großer Kirchenreformator in die Geschichte eingegangen, hätte der Soziologe Max Weber nicht eine „spezifische Wahlverwandtschaft“ des Calvinismus mit dem Kapitalismus gesehen: Die von Calvin geforderte innerweltliche Askese bilde ein wesentliches Element des „modernen kapitalistischen Geistes“. Es heißt sogar, Calvin habe weltlichen Erfolg als Gradmesser für die Zuteilung göttlicher Gnade verstanden – geschrieben hat er das allerdings nie.
Dass Calvin ein strenger, bibelfester und konsequenter Protestant war, steht dagegen außer Frage. Ebenso wie die Tatsache, dass Calvins Prädestinationslehre der menschlichen Entscheidungsfreiheit kaum Bedeutung beimisst: Ob Gottes Gnade uns in den Himmel hebt oder ob wir in der Hölle schmoren werden – alles ist im göttlichen Plan vorgezeichnet. Das Einzige, was dem Menschen bleibt, ist, Gottes Ehre zu preisen und jeglichen Zweifel zu unterdrücken. Souverän ist allein Gott. Das allerdings bedeutet, dass auch privater Wohlstand Gottes Gabe ist, die wir zu teilen verpflichtet sind. Das hat Frank-Walter Steinmeier in seinem gestrigen Geburtstagsständchen für Calvin dazu gebracht, die kapitalismuskritische Tradition der Calvinisten zu preisen.
1533 nahm Calvin an einem religiösen Umsturzversuch an der Pariser Universität teil, der die Lehre Luthers als einzig wahre proklamierte. Er musste fliehen und lebte fortan im Exil. Als die Genfer Volksversammlung 1536 die Einführung der Reformation beschloss, wurde Calvin als Mastermind der Umgestaltung der Gemeinde herangezogen. Calvin schuf eine Kirchenordnung, an deren Spitze Gewaltenteilung herrschte, die streng auf die Einhaltung der Moral im Gemeindeleben achtete und drakonische Strafen bis hin zur Todesstrafe für Abweichler und Andersgläubige aussprach.
Mag sein, dass sich aus der Idee der Selbstorganisation der Gemeinde im Calvinismus der Steinmeier’sche Slogan „Die Kraft des Calvinismus ist die Kraft von unten!“ ableiten lässt. Ob die traurige Idee des willenlosen und sündigen Menschen, die das Christentum von Augustinus bis Luther und Calvin vergiftet hat, uns deswegen sympathischer wird, ist eine andere Frage.
ULRICH GUTMAIR