: „Ich kann das Kind nicht kriegen“
Die Bonner Psychiaterin und Gynäkologin Anke Rohde kann die Indikation zur Spätabtreibung stellen. Voraussetzung: bleibende psychische Schäden
AUS BONN LUTZ DEBUS
„Sie zerstören unsere Familie.“ Die Mutter, bald vielleicht Großmutter, ist verzweifelt. Dringend benötigt sie die notwendige Bescheinigung. Ihre Tochter ist in der 17. Woche schwanger. Nur wenn die Gesundheit der werdenden Mutter in Gefahr ist, darf nach dem geltenden Paragraph 218 eine Abtreibung nach der zwölften Schwangerschaftswoche vorgenommen werden. Da die 16-Jährige körperlich völlig gesund ist und auch bei ihrem Baby keine Schädigungen festgestellt wurden, sitzen Mutter und Tochter im Sprechzimmer der Psychiaterin und Psychotherapeutin Anke Rohde. Die Professorin für Gynäkologische Psychosomatik an der Universitätsfrauenklinik Bonn soll bescheinigen, dass die psychische Gesundheit der Schwangeren durch die Geburt des Kindes dauerhaft beeinträchtigt sein würde. Genau das macht sie in diesem Fall nicht – und zerstört, so zumindest in der Sichtweise der aufgebrachten Mutter, gerade eine Familie.
Nicht selten geht, sagt Anke Rohde, die Initiative von den Eltern der minderjährigen Schwangeren aus. Frauen, die glauben, ihre Mutterrolle nach Jahrzehnten abstreifen zu können, fürchten, sich wieder um ein Baby kümmern zu müssen. Auch vermutet Anke Rohde, dass viele werdende Großeltern der Familie Peinlichkeiten ersparen wollen. Was werden Freunde, Kollegen und Nachbarn sagen, wenn die Tochter mit dickem Bauch und später mit einem Kinderwagen durch das Dorf spaziert?
Ein Schwangerschaftsabbruch lasse sich dagegen recht einfach verheimlichen. Ob die betroffenen jungen Frauen tatsächlich ihr Kind nicht wollen, ist selten sicher zu erkennen. „Ich kann das Kind nicht kriegen!“ Selbst diese Aussage der werdenden Mutter reicht Rohde nicht, um eine medizinische Indikation festzustellen. Zu einer differenzierten Schilderung, was denn geschehe, wenn das Kind geboren sei, seien die Mädchen aber meist nicht fähig. Noch habe man in diesem Alter wenige bis keine Erfahrungen mit Lebenskrisen gemacht. Deshalb sei eine ärztliche Prognose allzu oft auf Spekulationen angewiesen.
Spätabtreibung, was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Wort? Der Gesetzgeber ermöglicht bei einer vorliegenden Indikation einen Abbruch der Schwangerschaft bis kurz vor der Geburt. Viele Pränatalmediziner lehnen einen Eingriff nach der 24. Woche generell ab, weil ein Kind ab dieser Zeit lebensfähig ist. Manche Kollegen ziehen diese Grenze nicht, wenn die Gesundheit der Mutter gefährdet ist. Komme es also auch vor, dass ein Baby vor der Abtreibung zunächst totgespritzt wird? Bei ihrer Antwort sieht die Professorin, die ansonsten eher streng ihr Gegenüber anschaut, sehr traurig aus. „Ja, auch das kommt vor. Aber das ist ja ein ganz anderes Thema.“
Warum fassen manche betroffenen Mädchen so spät – zu spät – den Entschluss, abzutreiben? Die Gründe sind vielfältig. Einige ignorieren lange die Veränderungen an ihrem Körper. Es gebe tatsächlich Mädchen, die von der Geburt ihres Kindes überrascht werden. Dies seien nicht nur Märchengeschichten der Boulevardpresse, erzählt Rohde. Es braucht natürlich schon ein hohes Maß an Fehlwahrnehmung, eine Schwangerschaft in ihrer Endphase zu übersehen. Aber je größer das psychische Problem, um so größer die Fähigkeit, zu verdrängen. Wenn dann angeblich die Existenz einer Familie auf dem Spiel stehe, dann sei die Jugendliche eben so lange wie möglich „nicht schwanger“.
Es gebe aber auch Mädchen, die schwanger werden, weil sie einen diffusen Kinderwunsch haben. Untersuchungen belegen, dass Mädchen, die junge Mütter haben, selbst häufig wieder junge Mütter werden – eine Art Familientradition. Manche Mädchen wollen, weil sie selbst wenig Liebe und Zuwendung erfahren haben, ein Baby. „Dann hat mich endlich jemand lieb!“ Kinder, so Anke Rohde, können so denken.
Natürlich ist so eine frühe Mutterschaft eine Belastung für das Mädchen. Lebenspläne werden durchkreuzt. Oft können sich junge Mütter und auch deren Eltern schwer vorstellen, dass mit dem Säugling eine Schul- und Berufsausbildung zu schaffen ist. Die institutionellen Hilfsangebote seien tatsächlich noch lückenhaft und unattraktiv. Auch könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Vater des Kindes, meist selbst minderjährig, eine dauerhafte Beziehung zu Mutter und Kind aufrecht erhalte. Wer heiratet in diesem Land schon mit 16? Die Ablehnung von frühen Schwangerschaften sei eben oft eher ein gesellschaftliches denn ein medizinisches Problem. In anderen Kulturkreisen gebe es ganz andere Werte.
Immer wieder entstehen so spektakuläre Tragödien: Erst Anfang März wurde von einer 19-jährigen Mutter in Neuss berichtet, die ihr Baby so sehr schlug, dass es an den Verletzungen starb. Spielen solche Szenarien bei der Entscheidung einer medizinischen Indikation eine Rolle? Wenn so etwas aufgrund der Gesamtpersönlichkeit der jungen Schwangeren vorauszusehen sei, dann ja. Aber das seien doch eher sehr seltene Ausnahmen, sagt Rohde. In der Regel sei eine frühe Schwangerschaft zwar für alle Beteiligten ein großes Problem. Unlösbar sei dieses aber nicht.
Auch ein Abbruch sei, so Rohde, immer belastend. Eine Frau berichtete ihr, dass sie vor 20 Jahren eine Abtreibung gemacht habe. Nun sei sie fast 40. Sie habe seit dem Abbruch jeden Tag an dieses Kind gedacht. Wie alt wäre es jetzt? Wie sähe es aus? Quälende Fragen. Manche Frauen entwickeln Jahre nach einem Abbruch einen Kinderwunsch. Wenn sie dann nicht schwanger werden können, taucht oft der Satz auf: „Wenn ich doch...“
Die Freigabe zur Adoption des Babys direkt nach der Geburt erscheint selten als mögliche Problemlösung. Da mag Instinkt eine Rolle spielen, auch Schuldgefühle und Scham. Die Wenigsten machen von dieser Option Gebrauch. Viel häufiger wächst das Kind als Nesthäkchen bei seinen Großeltern auf. Die leibliche Mutter verwandelt sich zur großen Schwester. Früher sei es, so Rohde, gängige Praxis gewesen, den Kindern die wahren Verwandtschaftsverhältnisse zu verheimlichen. Aber auch wenn es keine Geheimnisse um die leibliche Mutter gibt, bergen diese Konstellationen einigen Konfliktstoff. Wer darf das Kind erziehen? Mutter oder Großmutter?
Dennoch bescheinigt die Bonner Psychiaterin nur selten eine medizinische Indikation bei minderjährigen Schwangeren. „Ich könnte mir das Leben leicht machen und immer ja sagen.“ Sie könne zwar das Leid der betroffenen Familien nachvollziehen, aber sie müsse sich auch an Gesetze und Bestimmungen halten. Und diese sehen diese spezielle Indikation nur dann als gegeben, wenn das Mädchen mit hoher Wahrscheinlichkeit bleibende psychische Schäden durch die Geburt oder die folgenden Belastungen erhalte. Dies sei schwer im voraus zu belegen und müsse natürlich auch an nachvollziehbaren Kriterien festgemacht werden.
Aber es sei doch vielleicht auch persönlich für die Gutachterin schwierig, eine Mitverantwortung bei einem Schwangerschaftsabbruch zu tragen? „Ja, aber das ist nicht ausschlaggebend,“ lautet die knappe Antwort. Wenn die Universitätsklinik Bonn keine Abtreibung ermöglicht, suchen Betroffene manchmal auch eine andere Lösung – die schnelle Reise nach Großbritannien oder in die Niederlande. Gibt es auch eindeutige Fälle, in denen eine Schwangerschaft nach der 12. Woche abgebrochen werden kann? Anke Rohde erzählt von einem 16-jährigen Mädchen, dass angab, in Folge einer Vergewaltigung schwanger geworden zu sein. Sehr lange habe sie dies verheimlicht. In diesem speziellen Fall konnte aufgrund der psychischen Ausnahmesituation, in der sich die Betroffene befand, eine medizinische Indikation anerkannt werden. Allerdings verwickelte sich das Mädchen bei der Darstellung des Vergewaltigers und des Tathergangs in Widersprüche. War, so fragt sich Anke Rohde, eventuell der Lebensgefährte der Mutter des Mädchens und nicht etwa ein anonymer, unbekannter Vergewaltiger der Erzeuger? „Wenn die Eltern sehr viel Druck machen, kommt mir manchmal auch die Idee, dass da ein Inzest vorliegen könnte.“