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Archiv-Artikel

Das Fünf-Millionen-Spiel

Arbeitstexte (II): Die Zahl der Erwerbslosen darf nicht zum einzigen politischen Maßstab werden. Vor allem mit den Lebenslagen der Menschen muss sich die Politik befassen

Deutschland befindet sich also imunfreiwilligenGroßversuch,weiterhin

„Die Konjunkturforscher melden erste Signale, dass die Wirtschaft das Schlimmste hinter sich haben könnte“, verkündete freudig ein Wochenmagazin und zitierte einen Sachverständigen mit den Worten: „Es macht sich allmählich wieder Optimismus breit.“ Das war im April 1994, die Arbeitslosenzahlen hatten zwei Monate zuvor zum ersten Mal in der deutschen Geschichte die Vier-Millionen-Marke überschritten, und Experten setzten darauf, dass das nur ein Spuk gewesen wäre. Vorübergehend.

Niemand konnte damals wissen, dass Deutschland mehr als zehn Jahre mit den vier Millionen leben würde, bevor im Zuge der Hartz-Reformen auch noch die Fünf-Millionen-Marke überschritten wurde. Die spannende Frage lautet nun: Wie wird sich Deutschland verändern, wenn man sich in den nächsten Jahren an fünf Millionen Arbeitslose gewöhnt? Woraus lässt sich dann noch Hoffnung schöpfen?

Um die Frage zu beantworten, macht es Sinn, die dramatische Verengung des öffentlichen Diskurses zu betrachten, die in den vergangenen Wochen zu erleben war. „Vorfahrt für Arbeit!“, forderte Bundespräsident Horst Köhler. „Tut endlich was!“, schlagzeilte die Bild-Zeitung. Einen „Jobgipfel“ hielten Regierung und Opposition ab. Dabei kann die Politik derzeit recht wenig tun für die Schaffung neuer Stellen – die mageren Ankündigungen nach dem Gipfel etwa zur Absenkung der Körperschaftssteuer beweisen das.

Die Verengung des politischen Blicks auf die Frage, wie um Himmels willen neue Jobs erzeugt werden könnten, wirkt deshalb ein bisschen wie eine Panikreaktion. Dabei entsteht ein Tunnelblick, der die Probleme nicht löst, sondern verschärft. Mit dem vergeblichen Beschwören neuer Jobs werden die Menschen nämlich auf ihren Status als Arbeitsmarktsubjekte reduziert. Angesichts der weiterhin zu erwartenden Massenerwerbslosigkeit wäre aber ein Diskurs sinnvoller, der Selbstwertgefühl und Handlungsoptionen der Individuen unabhängiger vom Besitz eines Vollzeitarbeitsplatzes machte.

Wem ein solcher Gedanke zynisch erscheint, der muss sich mal den heuchlerischen Umgang mit Arbeitslosenzahlen in den vergangenen Wochen anschauen. Die Städte und Gemeinden haben Tausende von Sozialhilfeempfängern arbeitslos gemeldet, die keinerlei Chance mehr auf eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt haben. Die treuherzige Behauptung der Kommunen, auch Suchtkranke könnten doch arbeiten, ist zwar nicht falsch, hat aber trotzdem etwas Verlogenes. Denn wo waren die tollen Beschäftigungsprogramme für obdachlose Alkoholiker, als für diese Programme noch die Städte und Gemeinden aufkommen mussten und nicht die Arbeitsagenturen?

Absurd wirkt die vermeintliche neue „Ehrlichkeit“ in der Arbeitslosenstatistik auch angesichts der jüngeren Vergangenheit. Noch in den Neunzigerjahren, nach den alten Regeln zur Berufsunfähigkeit, bekamen ArbeiterInnen anstandslos ihre Rente, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen nur noch in Teilzeit ackern konnten und daher keine Chance mehr hatten auf eine Stelle entsprechend ihrer Qualifikation. Tausende von kerngesunden Mittfünfzigern wurden damals zudem auf Kosten der Arbeitslosenversicherung in den Vorruhestand geschickt.

Es ist daher schon ein Treppenwitz der deutschen Sozialgeschichte, dass ausgerechnet jetzt, wo der Arbeitsmarkt noch enger ist, kranke Sozialhilfeempfänger und Angehörige von Langzeiterwerbslosen gegen ihren Willen in die Arbeitslosenstatistik geschaufelt werden. So schräg können nur die Deutschen sein. In Großbritannien und den Niederlanden werden hingegen nach wie vor hunderttausende gesundheitlich Beeinträchtigte nur in den Invalidenstatistiken geführt. Es wäre durchaus legitim, Kranke, die das selbst auch so wollen, wieder aus der Arbeitslosenstatistik herauszunehmen.

Mit dem Basteln an der Statistik ist es allerdings nicht getan. Die Politik muss sich auch mit den Lebenslagen der Arbeitslosen beschäftigen – und mit der Frage, wie sich Lebensqualität verbessern lässt. Wichtig ist dabei zum Beispiel eine regionalere Betrachtungsweise. In Baden-Württemberg liegt die Arbeitslosenquote bei 7,2 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern aber bei 23,6 Prozent. Nach einer Umfrage des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind fast zwei Drittel der Erwerbslosen nicht bereit, wegen eines Jobs umzuziehen. Eine schlechtere Bezahlung wird eher akzeptiert als ein Wohnortwechsel.

Die soziale Verwurzelung gerade älterer Menschen in ihren Heimatregionen ist aber nicht nur als ökonomisches Hindernis zu betrachten, sondern auch als psychische Ressource, die den Individuen zu Stabilität verhilft. Eine Politik zur Verbesserung von Lebenslagen muss deshalb in wirtschaftsschwachen Regionen Beschäftigung ganz anders fördern, etwa in der Subventionierung von Selbsthilfeprojekten. Dazu kann die Organisation von Leihbüchereien ebenso wie Krankenbetreuung und Schuldnerberatung gehören. Ähnliches geschah vor Jahrzehnten in den entindustrialisierten Regionen Großbritanniens.

Neben der regionalen Differenzierung in der Beschäftigung nimmt die Unsicherheit in den Arbeitsbiografien zu, das zeigt das Beispiel der Existenzgründer. Nach einer IAB-Untersuchung über gescheiterte Kleinunternehmer, darunter viele Ich-AGler, hatte ein Drittel vor der Gründung keine adäquate Berufs- oder Branchenerfahrung. Auftragsmangel war der häufigste Grund für das Scheitern, viele hatten nicht mal die für eine Vollzeittätigkeit ausreichende Arbeit. „Patchworkkarrieren“ mit Phasen von Unterbeschäftigung und Nebenjobs wird es künftig häufiger geben. Die soziale Sicherung wird dies begleiten müssen, etwa durch die Subventionierung von Krankenversicherungsbeiträgen für Kleinselbstständige.

Die neue „Ehrlichkeit“ in der Arbeitslosenstatistik wirkt vorder jüngerenVergangenheit absurd

Dass Menschen Abstiege und Armutsphasen in ihre Biografien einbauen können, ohne dass ihr Selbstbild zerbricht, ist vielleicht die wichtigste Integrationsaufgabe auch der Politik. Wenn das nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass die Suche nach Sündenböcken überhand nimmt. Der momentane Streit um die Lohnkonkurrenz durch osteuropäische Bauhandwerker und SchlachthelferInnen in Deutschland zeigt, welches Aggressionspotenzial da vorhanden ist. Die kollektive Wut auf ausländische Konkurrenten würde zum weiteren Trend, der die Massenarbeitslosigkeit begleitet.

Allerdings – und auch das zeigt die Geschichte – können sich Menschen an erstaunlich viel gewöhnen. Mit vier Millionen Arbeitslosen hat sich die Bevölkerung hierzulande zehn Jahre lang arrangiert. Und künftig wird schon jedes Absinken unter die Fünf-Millionen-Marke als „positiver Trend“ von der Politik gefeiert werden. Deutschland befindet sich also im unfreiwilligen Großversuch, weiterhin. Doch nur auf die Nürnberger Zahlen zu starren reicht als Maßstab dabei nicht aus.

BARBARA DRIBBUSCH