: Du trägst keine Liebe in dir
Sie sind „unterwegs“, sagen sie. Auf der Straße und in den Pornokinos am Bahnhof Zoo. Stricher würden sie sich nie nennen
VON MARTIN REICHERT
Sein in der Mitte gescheiteltes Haar hängt ihm locker bis auf den Kragen, ein weißes Hemd, ein Kaschmirschal, er trägt dazu einen schönen, dunkelblauen Mantel aus feinem Tuch. Er sieht gut aus. Für sein Alter: Er hat bestimmt die achtzig erreicht und Schwierigkeiten, die Stufen zum ersten Stock des Pornokinos am Berliner Bahnhof Zoo zu erklimmen, denn er geht an Krücken. Er ist nicht hierher gekommen, weil er keinen Videorekorder besitzt, er ist ein Gustav Aschenbach jenseits von Venedig und auf der Suche nach käuflichen Tadzios, nach jungen Strichern.
In der Jebenstraße hinter dem Bahnhof ist nur noch ein verschwindend kleiner Drogenstrich – Berlin ist nicht Hamburg –, das Hauptgeschäft hat sich längst in Pornokinos, Kneipen und Clubs verlagert. Rund und um den Zoo ist es schwieriger geworden, jemanden mit dem Rolls-Royce aufzugabeln – Berlin ist nicht München.
Der alte Herr muss sechs Euro Eintritt bezahlen und durch eine Gittertür gehen, versehen mit dem Schild „Frauen haben freien Eintritt“ – ein Witz, denn Frauen gibt es hier nur im Film. Und als Alibi. Es ist dies kein schwules Pornokino, kein offizieller Szene-Ort, denn dort würde „Men only“ an der Tür stehen. Mit Homosexualität hat hier niemand etwas am Hut, offiziell weder „Neigung noch Eignung“, wer hier eintritt, muss sein Sozialprestige als vollwertiger Mann nicht an der Kasse abgeben, bleibt, wenn er Wert darauf legt, vollwertiges Mitglied der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft. Man ist ja hier, um sich einen Heteroporno anzuschauen, in dem Männer eigentlich nur die Nebenrolle spielen.
Um die Ecke biegt ein bekannter schwuler Filmemacher und dreht seine Runden durch die verschiedenen Vorführzimmer. Hier wird für jeden Geschmack etwas geboten: Das Kino ist eine düstere Twilight-Zone mit flimmernden Bildschirmen und Leinwänden, in der sich heterosexuelle Männer und solche, die sich dafür halten, Schwule, Bisexuelle und ambivalente Jungmänner in schweigsamem Einvernehmen treffen – Letztere, um Geld zu verdienen. Die Twilight-Zone, in der all das möglich ist, was außerhalb undenkbar wäre, ist in jeder Hinsicht gebührenpflichtig. Dafür gibt es mehrere kleine Kinosäle mit verschiedenen Pornofilmen, Einzelkabinen mit „Wisch & Weg“-Rollen. Eine sexuelle Bedürfnisanstalt inmitten der City, da geht man mal eben in der Mittagspause hin oder schnell noch nach Feierabend, bevor es nach Hause geht. Der Filmemacher hat einen hübschen, etwa 25-jährigen Araber angesprochen und verschwindet mit ihm in einer dieser Kabinen – das Attraktivitätsgefälle muss pekuniär ausgeglichen werden. Der Grandseigneur mit Kaschmirschal und Krücken hat sich für einen vielleicht 19-jährigen Punk entschieden.
Tarkan ist Anfang zwanzig und trägt einen Rucksack. Eine gepflegte Erscheinung, der Junge von nebenan. Er ist aber so pleite, dass es nicht mal für ein Schließfach gereicht hat. Bisher waren seine Versuche, einen Kunden zu finden, nicht von Erfolg gekrönt, trotz Zurschaustellung seines Genitals, Männer sprechen nun einmal auf visuelle Reize an. Und Frauen gibt es hier ja nicht, so wie es eigentlich überhaupt keine Frauen gibt, die sich einen Bahnhofsstricher kaufen würden. „So ein dickes Ding, das wollen sie doch alle“, sagt er. Heute anscheinend nicht, trotz tiefer Blicke, trotzdem er einige Herren angesprochen hat. „Für dreißig Euro dürfen die ein bisschen fummeln und rummachen, meistens reicht das dann schon. Der Vollwaschgang kostet fünfzig, aber dabei bin ich nur aktiv.“ Er will nicht mit einem Journalisten reden, schon gar nicht mit einem, der nichts dafür zahlen möchte. Er lässt sich dennoch auf ein Gespräch ein. „Familienväter? Ich rede doch nicht mit denen, ich weiß nichts von denen. Ich bin auch nicht regelmäßig hier. Nur wenn ich Geld brauche, Taschengeld. Ich lebe noch bei meinen Eltern in Kreuzberg. Die dürfen auf keinen Fall wissen, was ich hier mache.“
Armutsprostitution? New-Balance-Turnschuhe und G-Star-Jeans haben eben ihren Preis, und einmal fummeln kostet eben dreißig Euro. Und wer sich prostituiert, hat mehr Kontrolle über sein Dasein als derjenige, der sich verliebt. „Ich bin bisexuell“, sagt Tarkan, „einmal war hier einer, der hat mir gefallen. Ein Geschäftsmann aus Westdeutschland, sehr gepflegt, unglaublich attraktiv. Der ist allerdings mit einem anderen in die Kabine gegangen, hat auch bezahlt. Hatte der doch gar nicht nötig!“
Wer nur das Geld aus der Hand gibt, behält die Kontrolle, und wer es einsteckt, unter Umständen auch. Es geht um Macht: Ich zahle, und du musst machen, was ich will. Du willst was von mir, also zahle. Zwanzig Grad unter null, obwohl die Heizung voll aufgedreht ist. Spätestens, wenn Tarkan auf die dreißig zugeht, wird er vielleicht auf Druck seiner Eltern heiraten und seine Manneskraft auf die Reproduktion verwenden, wie es von ihm erwartet wird oder wie er selbst sich das Leben als richtiger Man vorstellt. Wenn er Pech hat, hat er bis dahin nie erfahren, dass es Liebe zwischen Männern gibt, Begegnungen auf Augenhöhe, Softcore. „Subway? Ist das nicht eine Sandwichkette?“ fragt Tarkan erstaunt.
„SUB/WAY Berlin e. V.“ bietet Hilfe für Jungen und junge Männer, die „unterwegs sind“. Stricher wollen sie eigentlich nicht genannt werden, sie selbst würden sich nie so bezeichnen. Freier würden sich ja auch nicht als Freier bezeichnen, sie haben keine Identität, jedenfalls keine geklärte. Und die Jungs sind tatsächlich „unterwegs“: weil sie von zu Hause abgehauen sind, manchmal auch, weil sie von ihren Eltern weggeschickt wurden, um Geld für die Familie zu verdienen. So mancher Sprössling aus Rumänien gibt in westeuropäischen Bahnhofstoiletten sein Äußerstes, damit zu Hause der Abendbrottisch gedeckt werden kann. Es sind eher diese Jungs und nicht so genannte Gelegenheitsstricher wie Tarkan, die die Hilfe von SUB/WAY in Anspruch nehmen.
In der Schöneberger Anlaufstelle können sie tagsüber schlafen, duschen, ihre Wäsche waschen. Es gibt eine regelmäßige medizinische Betreuung, Kondome werden kostenlos ausgeteilt. Über zwanzig Menschen engagieren sich bei SUB/WAY, fünf Sozialarbeiter teilen vier volle und eine viertel Stelle, einer von ihnen ist Lutz Volkwein. Ein älterer Herr mit schönen Augen, die schon viel gesehen haben und dennoch strahlen. Beruflich geht er dorthin, wo es wehtut, privat lebt er mit seinem Freund auf dem Land, kümmert sich um den Garten und macht einen großen Bogen um alles, was „Szene“ ist, will mit dem großen Schlachthaus, in dem sich seine Klienten verdingen, nichts mehr zu tun haben und kehrt stattdessen in Altersteilzeit die Scherben auf.
Normalerweise interessiert sich niemand groß für SUB/WAY, aber nach der Ermordung Rudolph Moshammers haben sie ihm die Bude eingerannt, wollten spektakuläre Storys, reißerisches Material. Inzwischen wird „Mosis“ Nachlass bei eBay versteigert, und in der Anlaufstelle geht alles seinen gewohnten Gang. Die Waschmaschine läuft, aber noch ist keiner der Jungs da, es ist noch früh am Tag. „Der Moshammer wollte wahrscheinlich Dinge, die der junge Mann nicht wollte. Und eigentlich ging es ihm um den Kick, einen ‚richtigen‘ Mann rumzukriegen. Diese ganze Münchener Szene ist ja sowieso ziemlich verlogen, die sind ja mindestens zehn Jahre zurück.“
Laut Volkwein sind vierzig Prozent der Stricher deutscher Herkunft, denn es gibt ihn immer noch, den Jungen aus Rostock, der von zu Hause wegläuft, weil er aufgrund seiner sexuellen Identität nicht akzeptiert wird. Small Town Boy – Berliner Jungs sind es fast nie. Laut Volkwein hat sich nichts geändert; die in den 90er-Jahren einsetzende gesellschaftliche Liberalisierung hat sich aus seiner Perspektive nicht bemerkbar gemacht. Je jünger sie sind, desto eher bezeichnen sie sich als bisexuell. Ein junger Pole etwa sieht die Welt so: In Polen ist er heterosexuell, in Deutschland schwul, also ist er bisexuell. Viele osteuropäische Jungs sind hingegen oft tatsächlich heterosexuell und wollen lediglich Geld verdienen, Armutsprostitution, manchmal auch einfach nur schnelles, einfach verdientes Geld.
Bei den Deutschen spielen laut Volkwein oft Missbrauchs- und Gewalterfahrungen eine Rolle, und so mancher Junge hofft, ausgerechnet auf dem Strich väterliche Zuwendung zu finden – es sind laut Volkwein oft Kinder von alleinerziehenden Müttern, die ohne männliche Bezugsperson aufgewachsen sind. „Natürlich werden sie stattdessen sexuell ausgebeutet“, sagt Volkwein, der sich selbst durchaus bewusst ist, dass er für die Jungen der Oberdaddy ist. Allerdings einer, der für seine Zuwendung keine sexuelle Gegenleistung einfordert – wer bei SUB/WAY gegen den „Zölibatsparagrafen“ verstößt, fliegt. Keine privaten Kontakte, kein Austausch von Telefonnummern.
Die Jungen sind so sexualisiert, dass sie jeden auf Teufel komm raus anbaggern, auch die wenigen weiblichen Betreuerinnen: Sie wollen zeigen, dass sie „richtige Männer“ sind. So mancher Zivildienstleistende mit noch ungeklärter sexueller Identität ist bei SUB/WAY ins Schwimmen geraten. Die Jungen suchen Halt, den die Sozialarbeiter nur bedingt bieten können. „Ihr seid meine Acht-Stunden-Freunde“, sagt einer von ihnen immer. Er hat bereits gelernt, sich keinen Illusionen hinzugeben. Andere halten die Szene für ihre Heimat. Vor kurzem hat sich ein Junge umgebracht, weil seine Stammkneipe in der Motzstraße dichtgemacht hat.
Die Anlaufstelle war früher einmal eine Polizeiwache – ausgerechnet. In der ehemaligen Arrestzelle werden heute Lebensmittel aufbewahrt, denn einmal die Woche wird zusammen gekocht, einmal die Woche soll es schmecken wie bei Muttern. Im Aufenthaltsraum sieht es aus, wie es so aussieht in einer Jugendherberge: ein Kicker, eine Tischtennisplatte, ein poppiges Wandgemälde von einem New Yorker „Weltenbummler“. An der Seite, logisch, Schließfächer. Wer kein Zuhause hat, braucht wenigstens ein Schließfach, auf einer der Türen ist ein Aufkleber mit der Maus aus der Kindersendung.
Stricher-Szene? „Eigentlich müsste es ja eher Freier-Szene heißen. Wir hatten hier auch mal eine Freiergruppe, aber die hat sich dann ganz schnell in eine Coming-out-Gruppe umgewandelt. Der Zusammenhang zwischen nicht offen gelebter Homosexualität und männlicher Prostitution ist offensichtlich.“ Volkwein isst einen Heidelbeer-Muffin, ein kanadisches Café um die Ecke spendet sie regelmäßig – SUB/WAY ist aufgrund der schmalen Senatsmittel auf Spenden angewiesen. „Die Schwulen geben meistens nichts, die sind alle mit sich selbst beschäftigt, vielleicht ist es auch schwuler Selbsthass“, sagt Volkwein. „Am ehesten spenden Frauen.“ Außerdem handelt es sich bei den Strichern um junge Männer, und Männer haben in der Regel keinen Opferstatus, werden als Opfer von Gewalt und sexueller Ausbeutung nicht wahrgenommen. „Es gibt ja tatsächlich Jungs, die unsere Hilfen nicht annehmen, auch solche, die das ganz selbstbewusst machen, ohne Probleme. Die wissen, dass sie bei uns Kondome bekommen, oder sie nehmen die ärztliche Hilfe in Anspruch. Die Unproblematischen sind allerdings eine Minderheit.“
Leitidee von SUB/WAY ist, die Jungen in die Lage zu versetzen, ohne Prostitution zu leben, und das ohne moralischen Zeigefinger. Die Jungen vom Strich holen? „Was haben wir ihnen denn anzubieten?“, fragt Volkwein zurück. Es ist schwer, Wohnung und Arbeit für einen jungen Mann zu finden, der mit zwölf von daheim abgehauen ist und keinen Schulabschluss hat. „Dem Arbeitgeber die Wahrheit zu sagen hat keinen Zweck. Die denken alle, dass die sowieso alle klauen. Dabei sind es oft die Freier, die sich nicht an die Regeln halten.“ Die Jungen erleben oft Gewalt, werden vergewaltigt. Sie sollen lernen, Grenzen zu ziehen, auf ihre physische und psychische Gesundheit zu achten.
Rund läuft es hingegen bei „Querstrich“, dem Projekt für Callboys. Bei den Callboys handelt es sich um erwachsene, durch die Bank schwule Männer, die mit sexuellen Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt verdienen. Zumeist selbstbewusst: „Die wissen genau, was sie machen, und kennen ihre Grenzen. Professionelles Anschaffen geht nur bei geklärter sexueller Identität.“ Ihre Kunden sind meist ebenfalls offen lebende Homosexuelle, die wissen, was sie gerade brauchen.
Die mit dem Ehering am Finger bevorzugen die Twilight Zone. Ein stabiler Markt: Lutz Volkwein hat konkrete Hinweise auf Menschenhandel mit männlichem „Frischfleisch“ aus Osteuropa. Bisher war es üblich, dass die Jungen auf eigene Rechnung arbeiten, ohne Zuhälter, das einzige Männerbordell hat längst geschlossen. Das könnte sich jetzt ändern: „Das ist eine ganz neue Entwicklung, da ist bereits eine Maschinerie in Gang mit illegalen Puffs, übelsten Sexpraktiken und ganz jungen Kerlen. Der Wind weht aus dem Ostblock, eher Russland.“ Offensichtlich ein Zukunftsmarkt in einer angeblich durchliberalisierten Gesellschaft, in der es mittlerweile doch so normal ist, homosexuell zu sein.
Im Pornokino am Zoo geht das Leben vorerst einfach weiter. Im Café im Vorraum sitzen zwei schon etwas in die Jahre gekommene Anschaffende und trinken Kaffee, rauchen. Einer ruft seine Freundin an, erzählt ihr was von seinem Bewährungshelfer und dass er gerade auf dem Weg zu ihm sei. Er schaltet das Handy laut, damit sein Kumpel mithören kann, wie er sie belügt. Er grinst. Im Hintergrund läuft im Radio „Denn du trägst keine Liebe in dir“ von Echt.
MARTIN REICHERT, 32, ist taz-Autor