Wer trägt hier die Verantwortung?

Zu viel Staat lähmt die Eigenverantwortung von BürgerInnen, leere öffentliche Kassen zwingen zum Umdenken. Ein Plädoyer für den Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik von Alexander Künzel, Vorstand der Bremer Heimstiftung

Individuen, die keine Gemeinsamkeit mit dem Schicksal anderer empfinden, Individuen, die sich vom gemeinsamen Leben zurückziehen, verlieren an Leben. Das hat schon der französische Philosoph Alexis de Toqueville (1785) formuliert.

Wenn wir also als Alternative zu traditionellen Versorgungskonzepten auf der Suche sind nach gemeinwesenorientierten und eigenverantwortlichen Lebensentwürfen im Alter, dann darf am Anfang aller Überlegungen nicht die materielle Sozialstaatskrise stehen, das wäre gar zu billig und ohne Reue. Sondern vielmehr der selbstkritische Befund, dass das Glücksversprechen und die Konsumorientierung des stets gut gemeinten Sozialstaats-Materialismus uns gerade nicht hingeführt haben zu einer demokratischen Zivilgesellschaft, sondern vielmehr in die Irre geleitet haben. Deswegen muss am Anfang der Reform-Diskussion ein Paradigmenwechsel stehen. (...)

Weitermachen geht nicht

Zu vorschnell ist heute der Ruf nach Gemeinwesenorientierung und Bürgergesellschaft nur ein hohler Reflex auf leere Kassen – wer hier nicht tiefer gräbt, hat im Hinterkopf immer noch die Folie, dass der Sozialstaat in seiner konsumorientierten Ausprägung lediglich wegen einer Liquiditätslücke eine Pause einlegt. Sprudeln die Quellen erst wieder, könnten wir demzufolge weitermachen wie bisher!

Angesichts der demographischen Herausforderung geht es bei der notwendigen Umsteuerung zu einem eigenverantwortlichen Lebenskonzept im Alter aber auch nicht um neoliberale Sparpolitik, sondern vielmehr im Bereich der Professionellen um Aufbau neuer Qualitäten im Sinne von Gemeinwesenarbeit und Selbsthilfe-Management!

Paradigmenwechsel heißt also, den grundlegenden Webfehler im heutigen Sozialsystem zu thematisieren und nicht nur auf der Ebene der Individuen, sondern eben auch im Blick auf Wohlfahrtsverbände, Kommune und Staat zu durchleuchten: Ein leistungsrechtlich hoch ausdifferenzierter und über Steuern und Zwangsabgaben finanzierter Sozialstaat mindert individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft und fördert hingegen die tendenziell totalitäre Definitionsmacht professioneller Leistungserbringer: Polemisch zugespitzt – jede echte Gemeinwesenorientierung und Übernahme bürgerschaftlicher Verantwortung gefährdet die Gestaltungsmacht von Verbänden, Kommunen und Staat insgesamt bis hin zum möglichen Verlust professioneller Arbeitsplätze.

Für neue Ernsthaftigkeit

Der Umstieg von einer Spaß- und Konsumgesellschaft mit dem Trugbild einer leid- und verantwortungslosen Lebensführung hin zu einer neuen Ernsthaftigkeit bedarf einer kulturellen Übereinkunft: Das Fundament der demokratischen Zivilgesellschaft ist die Bereitschaft der Übernahme von Verantwortung für andere im Quartier, im Gemeinwesen, im Dorf. Dies erfordert die Neuausrichtung sämtlichen öffentlichen Handelns und eine Kritik an allen Staats-Verbandlichen Pauschallösungen.

Gerade die Segmentierung öffentlichen Handelns in unterschiedliche Zuständigkeiten von Stadtplanung bis Sozialwesen, Aufteilung von Gesundheitssystem (Krankenkassen bis hin zur Pflegeversicherung) verhindert das Entstehen lokaler Eigenverantwortung. (...)

Nachbarschaft statt Heime

Ohne konsequente Entbürokratisierung sind Gemeinwesenorientierung und Eigenverantwortung der BürgerInnen nicht zu haben. Denn nur wo Freiräume staatliches Vordenken und Bestimmen zurückdrängen, entstehen Spiel- und Lebensräume für Eigenverantwortung.

Dabei muss klar sein, dass solche Spiel- und Lebensräume sich eben nicht von selbst füllen, sondern vielmehr einer sehr qualifizierten und professionellen Begleitung und Moderation bedürfen. Letztlich geht es darum, die großen Produktivitätspotenziale aller Menschen zu wecken, zu nutzen und systematisch in das soziale Netzwerk eines Quartiers einzubinden. Dies betrifft besonders die durch Entpflichtung charakterisierte Ruhestandsrolle von Millionen älterer Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben! Weit über die heutige Ehrenamtsdiskussion hinaus muss im Generationenkontext eine neue Norm der sozialen Verpflichtung entwickelt werden. Dies wird dann auch Folgen haben bei der Frage, wie unterschiedlichste Hilfebedarfe im Alter zu beantworten sind. Soziale und pflegerische Unterstützung in der direkten Nachbarschaft und im entsprechenden Beziehungsgefüge ist bei der Bewältigung von Krisen, Krankheiten und Behinderungen sowie bei der Realisierung selbstbestimmter Lebensentwürfe gegenüber jedem Institutionsansatz vorzuziehen. (...)

Politischer Stopp für weitere Pflegeheimkapazitäten – der Aufbau eines qualifizierten Stadtteilmanagements und die dafür nötige Personalinfrastruktur ließe sich für eine mittlere Großstadt allein durch den Verzicht auf ein einziges mittleres Pflegeheim refinanzieren. (...)

Mehr als nur eine Reform

Soviel ist also klar – Gemeinwesenorientierung und Eigenverantwortung sind nicht die Etiketten eines platten neoliberalen Sozialabbaus, sondern verweisen vielmehr auf einen wesentlich schwierigeren und anspruchsvolleren Umsteuerungsprozess: die demographische Revolution erfordert den Umstieg von einer Sozial-Konsumgesellschaft zu zivilgesellschaftlicher Verantwortungslogik. (...)

Der Umbau unserer Kommunen hin zu „Sozialen Städten“ meint viel mehr als eine Reform der Sozialpolitik! Gerade in dem Problemdreieck von Pflegebedürftigkeit, Gesundheit und Krankheit bevorzugt die Konsumlogik des Sozialstaats Zuständigkeiten spezifischer Experten inklusive der Finanzierung ihrer Leistungen. Dadurch kommt es, so Professor Heiner Keubb (2004) „zu einer fragwürdigen Trias von Enteignung alltäglicher Lösungskompetenzen, Defizitperspektive auf Lebenslagen und einer Expertenzentriertheit“. (...)

Die Tür zur Zukunft

Weder eine möglichst hohe Sozialstaatsquote noch die Härte eines möglichst rigiden Sparkurses qualifizieren ein zukunftsorientiertes Gemeinwesen! Vielmehr werden im Standortwettbewerb die Städte und Gemeinden siegen, denen es gelingt, die traditionelle Ressourcenbindung in segmentierten Versorgungs- und Institutionsstrukturen umzusteuern in Quartiers- und Unterstützungsnetzwerke.

Das Gemeinwesen also, das es schafft, trotz unterschiedlichster materieller und sozialer Bedingungen seine Bürger und Bürgerinnen zu Verantwortungsübernahme für sich und andere zu befähigen und sich damit als Institutionsstaat zurückzunehmen, hat die Tür zur Zukunft schon weit aufgestoßen!