Der Anarchist von Sezuan


1945 jenseits der Hauptkriegsschauplätze (Teil 4)

AUS PEKING GEORG BLUME

Er trinkt das heiße Wasser mit einem weißen Strohhalm aus einer in Deutschland gefertigten Melitta-Glaskaffeekanne. Warum auch nicht? Warum sollte man heißes Wasser immer aus einer chinesischen Porzellantasse trinken? Zhou Fucheng lacht über seine deutsche Kaffeekanne. Auch mit 94 Jahren kann der Mensch noch erfinderisch sein. Zhou weiß, er war noch nie so frei, die Regeln zu brechen, wie heute. Keiner achtet mehr auf ihn. Doch nicht erst jetzt, sein Leben lang hat sich Zhou gegen die Gegebenheiten gewehrt. Auch als es schwer war, sein Wort Gewicht hatte und ihm sein Leben hätte kosten können. Rechtzeitig zog er immer wieder den Kopf aus der Schlinge. Die Art und Weise, wie er überlebte, war ein Wunder. An Geist und Seele unbeschadet, ohne seine Grundüberzeugungen zu ändern, hat er er Kolonisierung, Weltkrieg, Bürgerkrieg und Kulturrevolution überstanden. „Ich bin Anarchist“, sagt Zhou ganz leicht und unverbittert.

Es ist gar nicht so einfach für den emeritierten Philosophieprofessor, über Krieg, Massaker, Vertreibung und Flucht zu sprechen. Er lebt ja noch in der Gegenwart, in einem alten Mao-Bau der 50er-Jahre auf dem Campus der Peking-Universität. Von seinem Zimmerchen mit Bett und Schreibtisch blickt er durch ein Holzfenster über einen künstlichen See auf ein restauriertes Hofhaus, in dem an diesem Tag US-Außenministerin Condoleezza Rice zu Gast ist. Vor seiner Haustür parken Polizeifahrzeuge. Auf seinem Schreibtisch liegt die Neue Pekinger Zeitung mit einem Foto von Rice auf der Titelseite. „Wenn die KP das 60. Jahr nach Kriegsende wenigstens nutzen würde, um den Faschismus anständig zu analysieren, und zwar alle Sorten von Faschismus: den deutschen, italienischen, japanischen und chinesischen“, sagt Zhou in Richtung Hofhaus. Dort, hinter dem See, weiß er die Mächtigen seines Landes zu Tisch mit Rice, er will sie in die Pflicht nehmen, das Thema Vergangenheit und Faschismus nicht nur auf dem Rücken seiner Generation verhandeln. „In China gibt es heute noch Leute, die den Faschisten sehr ähnlich sind, auch wenn sie das nicht zugeben. Das merkt man daran, dass es bei uns immer noch keine Redefreiheit und Demokratie gibt. 1.000 Jahre Diktatur sind genug“.

Zhou hat seinen Standpunkt klar gemacht. Er lehnt sich zurück in seinen Schreibtischstuhl. Hinter ihm im Regal stehen die Werke Kants im deutschen Original. Jetzt kann er langsam die Erinnerung hochkommen lassen.

Aus seiner Sicht begann der Zweite Weltkrieg im Jahr 1931, mit dem Einmarsch der Japaner in die Mandschurei, dem Nordosten des Landes. Er war damals gerade 20 Jahre alt, einer von nur neun Philosophiestudenten der Tsinghua-Universität. Tsinghua- und Peking-Universität waren schon seinerzeit die wichtigsten Intellektuellenschmieden Chinas, 1919 ging von ihnen die 4.-Mai-Bewegung aus, die die Basis für die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 1921 und die Bauernrevolution von 1949 legte. Zhou hatte in seinem Jahrgang nur zwei Kommilitonen: Der eine von ihnen wurde später Außenminister unter Mao Tse-tung, der andere leitender Professor an der Harvard-Universität in Boston. Der eine entschied sich für die Kommunisten, der andere gegen sie.

Zhou aber war damals schon Anarchist und blieb es. Er teilte die sozialistischen Ziele der Kommunisten, aber verabscheute ihre strenge Organisation. Vor allem hasste er die Faschisten. Er erzählt, wie die Anhänger des Generalissimus Tschiang Kai-tschek, der von 1927 bis 1949 die führende Persönlichkeit der chinesischen Politik war, schon bei der Erwähnung seines Namens die Hacken aneinander knallten und die Hand zum Führergruß erhoben. Er steht mühsam aus seinem Stuhl auf und versucht die Geste nachzumachen. „Hitler hat den Faschismus nicht erfunden“, sagt er. Ihm ist es ernst damit. Deutsche und italienische Faschisten hätten damals viel gelernt von Tschiang und den Japanern: Führersystem, Samurai-Geist, Nation und Staat, die über alles gehen – in Japan und Chinas sei Anfang der 30er-Jahre vieles davon schneller und konsequenter umgesetzt worden als in Deutschland und Italien.

Zhou spricht von den japanischen und chinesischen Faschisten stets in einem Atemzug. Das trifft man heute selten in China, wo die offizielle KP-Geschichtsschreibung stark nationalistisch gefärbt ist und eine klare moralische Trennlinie zwischen den „japanischen Teufeln“ und Tschiangs Kuomintang-Nationalisten zieht, wenngleich die KP einst gegen beide kämpfte. Zhou hingegen erinnert daran, dass viele Intellektuelle seiner Generation Japan liebten, weil sie dort zum Teil studiert hatten und in Japan ein Beispiel für die Modernisierung Chinas erblickten. Die japanische Besetzung der Mandschurei stieß deshalb an den Universitäten Pekings zunächst keineswegs nur auf Kritik: Man sah darin auch eine Fortschrittsoption. Erst mit dem eigentlichen Kriegsausbruch zwischen China und Japan im Sommer 1937 setzte gerade bei denen, die sich wie Zhou nicht auf eine der kämpfenden Seiten schlugen, eine lange Phase der Resignation ein.

Zhou ging nach Ende seines Pekinger Studiums im Jahr 1936 nach Shanghai, wo seine Frau Englisch studierte. Dort erlebten beide den Kriegsbeginn und flohen anschließend zu Fuß nach Nanking, der damaligen Hauptstadt Chinas. Hier lebte Zhous Schwiegervater als ranghohes Mitglied der Tschiang-Regierung. Er ermöglichte dem Paar die Weiterreise per Schiff über den Jangtse in die Provinz Sichuan. Zhou erinnert sich an eine gewöhnliche Schiffsreise: „Wir fuhren auf einem normalen Dampfer.“ In Wirklichkeit entkamen sie nur um wenige Tage dem Nanking-Massaker, einer Zeit der Verwüstung und des Terrors, die der US-Historiker Jonathan Spence zu den schlimmsten Episoden in der Geschichte der modernen Kriegsführung rechnet. „Am 13. Dezember 1937 entfesselte die japanische Soldateska gegen die besiegten chinesischen Soldaten und die wehrlose chinesische Zivilbevölkerung einen beispiellosen, fast sieben Wochen andauernden Sturm der Brutalität und Gewalt.“ So schreibt Spence. Zhou aber verliert über das Nanking-Massaker nur wenige Worte. „Das Ausmaß der Gewalt in Nanking kann ich nicht beurteilen, ich habe es nicht erlebt.“ Hingegen könne er von der Bombardierung Chengdus, der Hauptstadt Sichuans, durch die Japaner berichten.

Konsequent entzieht sich Zhou damit dem bis heute andauernden „Historikerstreit“ zwischen China und Japan. Die KP hat die Zahl der chinesischen Opfer des Nanking-Massakers auf 300.000 geschätzt, rechtsgerichtete japanische Historiker sehen darin eine maßlose Übertreibung. Die KP fordert von Japan eine ausführlichere Darstellung des Massakers in den Schulbüchern, Anhänger der liberaldemokratischen Regierungspartei in Japan weisen solche Forderungen scharf zurück. Zhou kennt den Streit und schätzt ihn nicht. Keinesfalls will er ein Werkzeug kommunistischer Geschichtsschreibung sein, der er nicht über den Weg traut. „Die Japaner warfen Brandbomben, die die Stadt in Flammen verwandelte und die Böden mit Leichen bedeckte“, berichtet er von seiner Kriegszeit in Chengdu. Vor moralischen Schuldzuweisungen aber hütet sich der spätere Professor für westliche Ethik der Peking-Universität. Er sagt nur, der Krieg sei eine große Tragödie gewesen.

In seiner Autobiografie ist das Kriegskapitel kurz. „Nach Ausbruch des Krieges wollte ich nach Südostasien fliehen, um der Realität zu entkommen“, schreibt er dort. „Als das nicht klappte, las ich jeden Tag Shakespeare und war davon tief besessen. Seiner Auffassung über das Leben stimmte ich zu: Die Welt ist eine Bühne. Jeder Mensch ist ein beweglicher Schatten, ein armer Schauspieler. Man redet und tanzt. Aber nach dem Schluss des Theaters müssen alle die Bühne wieder verlassen.“

Zhou hielt durch. In die Provinz Sichuan – in der alten lateinischen Umschrift hieß sie Sechuan oder eingedeutscht Sezuan – kamen die Japaner nicht. Trotzdem war die Armut entsetzlich und die Todesangst allgegenwärtig. Aber nicht das machte Zhou in den Kriegsjahren zu schaffen, sondern vielmehr der psychische Druck der Ideologien. „Wir diskutierten viel, die Meinungen waren sehr verschieden“, erinnert er sich. Dauernd zerbrachen Freundschaften, vor allen mit denen, die Tschiang folgten. Die wenigen Freundschaften, die hielten, retteten ihn. Diese Zeit, meint er, war zugleich der Höhepunkt des Kommunismus in China. Alle glaubten, dass die Kommunisten anständig waren und Gutes fürs einfache Volk taten. Es gab nur wenige Anarchisten wie ihn.

Später sah er sich bestätigt. Als die Industriepolitik des „Großen Sprungs nach vorn“ China Anfang der 60er-Jahre Millionen Hungertote bescherte, als anschließend die Kulturrevolution über das Land fegte, da musste Zhou zusehen, wie viele seiner Bekannten „nicht durch die Hand der Feinde, sondern durch die Hand der Freunde starben“. Die Unterschiede zur Kriegszeit verschwammen. „So viele haben im Namen des Staates Verbrechen begangen“, resümiert Zhou und hegt bis heute eine einfache Hoffnung: „Wer Verbrechen begeht, wird eines Tages dafür bestraft.“

Über seinem Bett hängt eine von ihm selbst angefertigte kalligrafische Zeichnung, die auf den 4. Juni 2001 datiert ist, genau zwölf Jahre nach dem Massaker der Volksarmee an den Anhängern der Studentenrevolte in Peking. Einige von seinen Schülern kamen damals ums Leben. „Wer mit Feuer spielt, verbrennt. Wer zu viel Unrecht begeht, begeht Selbstmord“, hat er in schwarzer Tusche aufgetragen. Er selbst hat nie mit Feuer gespielt, Selbstmord kam für ihn nie in Frage. Freiheit und Gleichheit gehören für ihn zusammen. Das sei die Botschaft der Pariser Kommune gewesen. Man habe sie im 20. Jahrhundert vergessen. Auf seinem Schreibtisch steht ein Foto von ihm auf der Pariser Place de Bastille.