berliner szenen Achtlose Kunden

Treueherzchen am Kotti

Ich sah wohl scheiße aus an diesem Tag. Die Frau vor mir in der Schlange bekam jedenfalls ein Lächeln von der Kassiererin und wurde gefragt, ob sie auch ein Treueherzchen haben wollte. Mich fragte die Kassiererin nicht, obgleich ich ein zwar oft mäkelnder, aber doch treuer Kunde bin und für 5,36 eingekauft hatte, also 36 Cent mehr ausgegeben hatte als zur Erlangung eines Treueherzchens nötig. Ich reklamierte es, bekam’s dann und fand auf dem Boden vor der Kasse andere Treueherzchen, die achtlose Kunden weggeschmissen hatten.

Treueherzchen sammeln ist so ähnlich wie Fußballbildchen sammeln. Die Rabattmarken aus der Kindheit sahen zwar wertvoller und raffinierter aus, ein bisschen wie diese „Notopfer Berlin“-Briefmarken, aber Treueherzchen sind doch auch schon was. Wenn ich an die Rabattmarken aus meiner Kindheit denke, fallen mir gleich die ganzen Hitler-Briefmarken ein, die ich als Zwölfjähriger in meinem Briefmarkenalbum hatte. Die waren nicht viel wert, weil sie so zahlreich waren Anfang der 70er. Außerdem schmeißen die kleinen Jungs ihre Alben mit den Fußballerbildchen weg, wenn sie dann mit zwölf anfangen Sido zu hören, während man die mit Treueherzchen voll geklebte Seite irgendwann an der Kasse eingelöst haben wird. Für 120 Treueherzchen, d. h. nachdem man für wenigstens 600 Euro eingekauft hat, gibt es ein fünfteiliges Service „aus der Thomas Trend Factory“, das ansonsten 39,99 kosten würde.

Im Kaiser’s am Kotti sind die KassiererInnen viel netter und sagen auch mal: „Sie kriegen zwei Herzen – der Kunde vor Ihnen wollte keine.“ Die Freundlichkeit des Personals hier hat wahrscheinlich mit den benachbarten Junkies zu tun. DETLEF KUHLBRODT