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Archiv-Artikel

Kreuzberg, mein Kreuzberg

VON MAX MÜLLER

An alles kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern. Es war einer dieser diesigen, grauen Tage, als ich den Weg zurück zu meinem derzeitigen Zuhause, dem so genannten Rauchhaus, schlenderte.

Mein Freund Cocco Neubauer hatte es geschafft, dass ich dort einzog. Beim Plenum, wo beschlossen wurde, wer alles einziehen darf, war kaum jemand da, gerade mal zwei Freunde von Cocco. „Wer ist dafür?“, fragte der Plenumsleiter. Pflichtschuldig hoben die beiden loyalen Freunde ihre Hände, und ich war drin! Ein Jahr wohnte ich dort unbemerkt von allen, da ich beschlossen hatte, mich bei irgendwelchen Meetings nicht blicken zu lassen. Ich badete mit meiner damaligen Freundin Lesley dort, was sehr praktisch war, da sie kein Badezimmer besaß. Und weil die Badewannen dort ähnlich groß waren wie die in dem Film „Quadrophenia“. Allerdings musste man tunlichst vor 12 Uhr baden, da sonst ständig wer anklopfte und hereinwollte.

Meiner Erinnerung nach bestand das Rauchhaus aus vier Fraktionen: italienischen Junkies, deutschen Schleppscheiße-Punks und einem nach Schweiß und Rotwein (!) stinkendem französischen Maler (!!!), der sich vorgenommen hatte, die gesamte Mauer mit seinen hässlich bunten Gnomen zu bemalen. Was damals allgemein als Belästigung empfunden wurde. War einer der Gnome übermalt, wurde er sogleich am andern Tag von exakt demselben hässlichen Männchen ersetzt. Die letzte Fraktion: die Hausmeister, die sich ständig aufspielten und glaubten, irgend so etwas wie deutsche Ordnung in dieses Chaos bringen zu müssen. Was ihnen jedoch absolut nie gelang. Und so ließ man sie walten und schalten. Das Rauchhaus war ständig überheizt, weswegen ständig alle Türen offen standen. Permanent gab es Hausdurchsuchungen, bei denen auch irgendwelche Leute mitgenommen wurden, die man nie wiedersah, Gott sei Dank. Ich verstand sowieso nicht, wieso die Stadt für diesen Hort an Drogen und Kleinkriminalität bezahlte, andernorts aber Kitas und Kinderbauernhöfe schloss. War aber so und ist immer noch so. Mein Freund klärte mich auf, dass im Haus noch so eine Art Treberprojekt sei, was von der Stadt unterstützt werde. Da hat man gleich den Rest auch noch unterstützt. Oh Gott, die armen, minderjährigen Treber, die hier mit von Schleppscheiße gezeichneten offenen Armen und Beinen empfangen wurden, um dann erst mal mit Drogen bekannt gemacht zu werden. Das dachte ich damals.

Ich hatte ein Riesenzimmer, mein Freund Cocco hatte nebenan ein Zimmer. Er brachte mir bei, wie man sich Ayran selbst macht. Eine 1-Liter-Plastikflasche Buttermilch, Wasser und Salz und Pfeffer, und dann kräftig schütteln. Heute weiß ich, dass Ayran aus Joghurt besteht und nicht aus Buttermilch. Er kochte Kaffee in so einer kleinen, komischen Chromkanne und trank ihn mit viel Milch. Cocco war nämlich halb deutsch und halb Franzose und, wie das Klischee so will, im Rahmen seiner finanziellen Verhältnisse ein echter Feinschmecker. Mein Zimmer im zweiten Stock hatte eine prima Aussicht auf den Grenzturm – direkt hinter dem Haus verlief die Mauer –, von dem aus uns ab und zu freundlich lachend die Grenzsoldaten zuwinkten, da sie wohl glaubten, an asozialem Gesindel wie uns würde der Westen kaputtgehen. Damals hätte ich ihnen gerne gesagt, dass dem nicht so ist. Dass eher das Gegenteil der Fall ist und der Staat unseren dekadenten Lebensstil subventioniert, wo er kann, und so erst möglich macht. Das empfand ich als einen elementaren Vorteil des westlichen, kapitalistisch geprägten Systems gegenüber dem östlichen, kommunistisch geprägten. Im Keller waren die Proberäume unserer Bands. Coccos Band hieß: Lolitas, meine: Camping Sex. Die Proberäume waren natürlich auch umsonst.

Aber ich schweife ab. Wie gesagt, es war ein diesiger Tag. Ich hatte tags zuvor viel getrunken und stolperte gedankenverloren über den gepflasterten Vorhof des Künstlerhauses Bethanien. Vor mir erschien das Eingangstor des Rauchhauses, als sich hinter mir langsam ein Auto näherte. Was ich als merkwürdig empfand, denn Autos rasen hier lang (Prolls), oder sie machen einen Höllenkrach, bevor sie schließlich verrecken (eine Clique aus Althippies, die ihre Wohnwagen vor dem Rauchhaus parkte). Das Geräusch kam immer näher. Neben mir fuhr sehr langsam ein goldener Mercedes 280 SE. Die Sonne kam für einen Augenblick hervor und tauchte alles in ein unwirkliches, gelbes Licht. Wie im Traum sah ich zum Beifahrer hinunter und sah … und sah … Peter Falk! Der wiederum mich schräg von unten her ansah und dann grinste, da er wohl mein ungläubiges Gesicht bemerkt hatte! Das bildete ich mir damals jedenfalls ein. Die Sonne verschwand wieder, der Wagen entfernte sich langsam im Rückwärtsgang. Ich betrat das Rauchhaus.

Später erfuhr ich, dass Wim Wenders gerade „Der Himmel über Berlin“ drehte und mit Peter Falk so etwas wie eine Sightseeingtour gemacht hatte. Ob sich Peter Falk an mich erinnert? Wohl kaum. Ich aber werde diese Begegnung nie vergessen, da ich bis heute ein großer Bewunderer seiner Kunst bin. Was das alles mit Kreuzberg zu tun hat? Ich bin der festen Meinung, dass zu dieser Zeit (in den Achtzigern) einem solche Begegnungen nur in Berlin-Kreuzberg passieren konnten.