Falsche Betreuer

SEILSCHAFTEN Eine Herausgeberin des Fallada-Gefängnistagebuchs wird verdrängt, weil sie die Stasi-Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg nicht in Ruhe ließ

Die zweite Aufgabe der Literaturzentren in der DDR: „Aufdeckung feindlich-negativer Haltungen“

VON BARBARA KERNECK

Denunziantentum unter der NS-Diktatur, die Gefährdung seiner literarischen Arbeit, Freunde wie Ernst Rowohlt und Emil Jannings, selbstkritische Reflexion der eigenen Haltung zu den Nationalsozialisten sind zentrale Themen im 1944 verfassten Gefängnistagebuch des Schriftstellers Hans Fallada. Weltberühmt dank seines Romans „Kleiner Mann – was nun?“, saß der 51-jährige Alkoholiker drei Monate lang im Gefängnis Neustrelitz, weil er im Rausch einen Schuss in Richtung seiner von ihm frisch geschiedenen Frau Anna Ditzen abgefeuert hatte – ohne Tötungsabsicht, wie beide versicherten. Von seinen Wärtern geizig mit Papier versorgt, erfand er eine Art Geheimschrift. Zwischen die Zeilen fertiger Erzählungen quetschte er immer neue, riskante Texte, in winzigen, manchmal auf dem Kopfe stehenden Lettern, oft in Sütterlin.

Dass dieses Werk jetzt lesbar im Aufbau Verlag veröffentlicht wurde, verdanken wir zwei Herausgeberinnen: der nordirischen Professorin und Autorin der englischen Fallada-Biografie, Jenny Williams, und Sabine Lange, von 1984 bis 1999 Archivarin im Hans-Fallada-Archiv in Feldberg und Verfasserin mehrerer Bücher über ihn. Sieben Jahre lang haben sie das Manuskript seziert, mit Lupe und weißen Handschuhen.

Herausgeberin verdrängt

Aber der deutschen Mitherausgeberin untersagt nun der Verlag, mit Lesungen aus dem Buch öffentlich aufzutreten, und spart sie in der Reklame aus. Dies ist Resultat eines in der Geschichte des deutschen Buchunwesens einzigartigen Kompromisses zwischen dem Aufbau Verlag und den Erben Falladas und Inhabern der Manuskriptrechte, den Brüdern Ulrich und Achim Ditzen. Die hatten anfangs sogar gedroht, die Zustimmung zur Veröffentlichung zu verweigern, würde nicht Sabine Langes Name aus dem Innentitel getilgt.

Weshalb? Eine Antwort liefert vielleicht die Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg. Gegründet 1971 als Nachlassverwaltung, musste es sich einen Nachlass erst besorgen. Hans Fallada hatte lange ganz in der Nähe, in Carwitz, gelebt. Also kaufte die Akademie der Künste der DDR 1978 seinen Nachlass gegen Westgeld in Braunschweig. Die Stasi war Mitbegründerin dieser Einrichtung, auf die 14 weitere ihresgleichen in der DDR folgten.

Die zweite Aufgabe der Literaturzentren lautete: „Erfassung und intensive Betreuung literarisch tätiger junger Bürger der DDR“ zwecks „Aufdeckung feindlich-negativer Haltungen“. Den ersten Leiter der Neubrandenburger Einrichtung, Tom Crepon, brachten seine Betreuungsbemühungen an die Grenze zum Agent Provokateur. Unermüdlich ermutigte er junge Autoren zum Schreiben im Bannkreis des Zentrums und denunzierte sie dann bisweilen wegen des Geschriebenen. Dies deckte im Jahre 2006 die Berliner Journalistin Christiane Baumann auf.

Agitieren, denunzieren

Die Jungautorin Anne Gollin brachte er sogar hinter Gitter. Schon mit 15 Jahren hatte sie ihm als örtlichem Literaturpapst eigene Texte anvertraut. 1979 identifizierte Crepon alias IM Klaus Richter sie als Verfasserin eines anonym zirkulierenden Gedichts. 1980 wurde sie wegen Verbreitung von Hetzschriften verhaftet.

Taub gegenüber Anwerbungsversuchen der Stasi, offen für Kontakte mit westlichen Nutzern, geriet Sabine Lange während ihrer 16 Jahre im Fallada-Archiv häufig unter Druck. Entlassen wurde sie 1999, weil sie die Atmosphäre im Literaturzentrum als „unfrei“ bezeichnet hatte. 2006 erschien in der Edition Temmen ihr auf Recherchen bei der Gauck-Behörde basierendes Buch „Fallada – Fall ad acta?“. Sie schilderte, wie die DDR-Kulturpolitik die Falladarezeption und Forschung gängelte. Dabei entdeckte sie denunziatorische Informationen über sich selbst von einer KP (Kontaktperson) „Helga Haag“. Unter diesem Decknamen wurde in den Stasi-Akten Heide Hampel geführt, seit 1985 Nachfolgerin Tom Crepons. In Sabine Langes Buch stand sinngemäß, dass sie IM auch gewesen sei. Die Genannte klagte vor dem Landgericht Hamburg. Der für seine milden Urteile gegen ehemalige Stasi-Mitarbeiter bekannte Richter Buske entschied zu ihren Gunsten: Die juristisch nur relevante Verpflichtungserklärung sei nicht nachgewiesen. Die Edition Temmen nahm das Buch vom Markt – eine auffällige Koinzidenz zu den heutigen Ereignissen. Der Verdacht liegt nahe, dass der Schattenboxhieb gegen die Koherausgeberin des Fallada-Gefängnistagebuchs aus Solidarität mit der alten Stasi-Seilschaft geführt wurde. In seinem Artikel „Aufarbeitung von Stasi-Erbe schwierig“ verriss der Fallada-Erbe Achim Ditzen denn auch die Studie der Berliner Journalistin Christiane Baumanns.

Das erste in der DDR gegründeten Literaturzentrum residiert heute in einem Neubau an Stelle der maroden Villa, in der die Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933–1973) vor ihrem frühen Tod wohnte. Mit der eigenen Vergangenheit setzte man sich dort nie auseinander. Heide Hampel musste 2006 als Leiterin des Literaturzentrums zurücktreten. Doch veranstaltet sie noch Führungen im posthumen „Brigitte-Reimann-Haus“. Dort wird der Nachlass der Schriftstellerin gepflegt, ebenso wie die Nachlässe von zwei Autoren, die Reimann zuletzt bespitzelten.

■ Hans Fallada: „In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944“. Herausgegeben von Jenny Williams und Sabine Lange. Aufbau Verlag, Berlin 2009, 24,95 €