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Archiv-Artikel

„Man muss das gesehen haben“

GESCHICHTE Wissen, was hier geschah: In dem Stück „Wellenartillerie Telefunken“ erkundet Hans-Werner Kroesinger mit seinen Schauspielern, wie am Standort der HAU-Theater Zwangsarbeiter eingesetzt wurden

Hans-Werner Kroesinger

■ Die Geschichte ist bekannt, denkt man, bis sie man sie von Hans-Werner Kroesinger auf die Bühne gebracht sieht: sachlich, detailreich, genau auf die Sprache der Dokumente hörend. 1962 geboren, studierte er in Gießen angewandte Theaterwissenschaften. Er arbeitete als Assistent bei Robert Wilson und Heiner Müller und begann Anfang der neunziger Jahre mit eigenen Projekten, unter anderem am ZKM Karlsruhe, an der Staatsoper Stuttgart, am Bayerischen Staatsschauspiel, an der Shouwburg Rotterdam und für die documenta X in Kassel. Der erste Stoff, den er dokumentarisch bearbeitete, waren die Vernehmungsprotokolle von Adolf Eichmann. Seine meisten Stücke, über 20 bis heute, sind am Hebbel am Ufer herausgekommen und wurden oft zu renommierten nationalen und internationalen Festivals eingeladen.

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Kroesinger, Ihr neues Stück „Wellenartillerie Telefunken“ beschäftigt sich mit Lagern für Zwangsarbeiter dort, wo heute das HAU 3 ist, am Tempelhofer Ufer 10. Wie haben Sie davon erfahren?

Hans Werner Kroesinger: Matthias Lilienthal hat mir zuerst davon erzählt. Das berührt einen merkwürdig, dass an einem Ort, an dem man schon so viele Produktionen gemacht hat, eine Geschichte stattfand, die so weit ausgeblendet wurde. 1944 gab es in Berlin eine Bevölkerung von 2,8 Millionen plus 400.000 Zwangsarbeiter. Das heißt, jeder Achte war ein Zwangsarbeiter.

Sie meinen, jeder damals muss das mitbekommen haben?

Mich hat schockiert, wie groß der Faktor der Ausblendung des Themas danach in der bundesdeutschen Gesellschaft gewesen ist. Man muss das jeden Tag gesehen haben. Die Zwangsarbeiter waren beschäftigt beim Bäcker, bei Luftangriffen waren sie die Ersten, die danach zur Räumung losgeschickt wurden. Die durften nicht in die Luftschutzkeller. Man muss morgens gesehen haben, wie sie zur Arbeit gingen, die wurden von ihrem Lager abgeholt und mit Bewachung zum Werk geführt. Man muss das gesehen haben, wenn man nicht sechs Jahre lang im geschlossenen Zimmer verbracht hat.

Wie haben Sie diese Geschichte recherchiert?

Das kommt aus unterschiedlichen Quellen: aus dem Kreuzbergmuseum und aus den Geschichtswerkstätten, die zum Thema Zwangsarbeit hervorragende Arbeit geleistet haben. Regine Dura hat für uns recherchiert und sehr viel Zeit verbracht im Telefunken-Archiv im Museum für Verkehr und Technik. Es gab eine Telefunken-Zeitung. Als wir diese Berge von Material dann hatten, haben wir das in Pools zu Themen gruppiert. Gut drei Wochen lang haben wir mit den Schauspielern dann am Tisch gesessen und geguckt, was wird Schwerpunkt, was Nebenstrang.

Wissen Sie, wie viele Zangsarbeiter hier am Tempelhofer Ufer 10 untergebracht waren?

Hier waren 119 französische Arbeiter. In der unmittelbaren Umgebung waren hunderte, tausende. 1941 wird Telefunken von AEG übernommen. Ab diesem Zeitpunkt sprechen AEG-Forscher von der AEG als Rüstungskonzern. Berlin überhaupt war ein Zentrum der Elektroindustrie. Das hatte mit der Steuerung von Bomben und der Navigation von Flugzeugen zu tun, das wurde alles hier produziert.

Sie nutzen in der Aufführung viele Originaltexte, können Sie mir Beispiele nennen?

Wir lesen aus der Korrespondenz von Telefunken. Telefunken beschwert sich, dass sie die falschen Arbeitskräfte bekommen, sie brauchen junge Frauen, bis 25, mit scharfen Augen. Sie haben das Gefühl, dass die guten Kräfte an die Konkurrenz geliefert werden. Eine der interessantesten Quellen ist der Bericht eines Mitarbeiters vom Auswärtigen Amt. Er schreibt voller Empörung: Die Ostarbeiter sind da, jetzt sollen sie vernünftig arbeiten, und er muss feststellen, das funktioniert nicht, weil sie falsch behandelt werden. Das ist keine humanitäre Aufwallung, sondern folgt der Logik, wenn die Leute da sind, sollen sie auch vernünftig produzieren. Dann schreibt er über die Missstände. Es geht ihm um die effiziente Nutzung.

Wie wird jetzt aus den Dokumenten ein Stück?

Wir bauen zwei Räume, wie eine Ausstellung zur Geschichte von Telefunken. Jeder Raum ist geschlossen und korrespondiert mit dem anderen über Radio. Die Themen der Räume sind unterschiedlich. Das verschiebt sich im Laufe des Abends, irgendwann schaut man auch hinter die Wand. Und das machen wir ja auch mit dem Stück, hinter die Wand schauen, was war hier, was war nebenan, gegenüber, zwei Straßen weiter.

Telefunken ist noch immer ein bekannter Name, auch wenn es die Firma heute nicht mehr gibt.

Bei Telefunken kommen halt zwei Themen zusammen, Kriegstechnik und Unterhaltungstechnik. Gegründet wurde Telefunken auf Initiative des Kaisers. Vor dem Ersten Weltkrieg war der Traum, ein großes koloniales Funknetz aufzubauen. Der erste große Boom ist im Ersten Weltkrieg, Schiffe werden ausgestattet, Heeresverbände dirigiert. Die Kommunikation in den Schützengräben lief über Funk. Nach dem Ersten Weltkrieg bricht der Hauptauftraggeber weg, das Militär, und man wechselt in den zivilen Sektor und fängt an, Rundfunkgeräte zu produzieren. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gibt es einen erneuten Boom.

Da beginnt auch die Geschichte der Propaganda?

Ja. Hier ist ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“: „Ich weiß, daß man Menschen weniger durch das geschriebene Wort als vielmehr durch das gesprochene zu gewinnen vermag, daß jede Bewegung auf dieser Erde ihr Wachsen großen Rednern und nicht den großen Schreibern verdankt.“ Telefunken-Ingenieure waren entscheidend daran beteiligt, dass die Übertragung von Hitlers Reden funktionierte, auf großen Plätzen und am Radio. Ein Detail ist interessant: „Volksempfänger“ kennen wir alle als Begriff. Der Volksempfänger heißt aber eigentlich V E 301. 30. 1., Tag der Machtergreifung Hitlers. Bei den Nationalsozialisten spielt Radio eine große Rolle als Propagandainstrument, und Telefunken erlebt eine Art Höhenflug.

„Die deutsche Industrie der Nachkriegszeit war hervorragend aufgestellt für die Gastarbeiter, weil man durch die Erfahrung mit den Zwangsarbeitern in großem Stil darauf vorbereitet war, wie man mit ungelernten Arbeitern, die die Sprache nicht beherrschen, produziert, indem man Produktionsabläufe vereinfacht“

Wie begann die Geschichte der Zwangsarbeiter?

Das Deutsche Reich hat ungefähr 60.000 Soldaten pro Monat an der Ostfront verloren. Das waren Arbeitskräfte, die vernichtet wurden, aus der Perspektive der Industrie. Dann wird Fritz Sauckel zum Reichsbeauftragten für Arbeit ernannt. Der fängt an, im großen Stil in anderen Ländern andere Jahrgänge auszuheben. Der komplette Jahrgang 1922 wird dann nach Deutschland verfrachtet, um hier zu arbeiten. Was den Ostarbeitern anfangs versprochen wurde, an Lohn, an guten Unterkünften, an Versicherungen, an Behandlungen durch den Arzt, das ist alles nicht eingehalten worden. Die Arbeitsstätten waren sauber und gut geheizt, aber die Unterbringung war jenseits von Gut und Böse. Nicht geheizt, verwanzt, die Verpflegung war schlecht.

Sie machen schon seit vielen Jahren dokumentarisches Theater, mehrfach auch über die Zeit des Nationalsozialismus. Ist immer wieder Aufklärung Ihr Antrieb?

Mir ist diese Annäherung an die Geschichte auch wichtig, weil die Geschichte eben noch nicht vorbei ist. Das sieht man in den Produktionslogiken. Es gibt die Theorie, dass die deutsche Industrie der Nachkriegszeit hervorragend aufgestellt war für die Gastarbeiter, weil man durch die Erfahrung mit den Zwangsarbeitern in großem Stil vorbereitet war darauf, wie man mit ungelernten Arbeitern, die die Sprache nicht beherrschen, trotzdem produziert, indem man zum Beispiel Produktionsabläufe vereinfacht.

Diese Verbindung habe ich noch nie so gedacht.

Das ist von der Produktionslogik gedacht. Duch den Krieg waren viele Arbeitskräfte verloren, also wie produziert man weiter, auf einem bestimmten Level und billig, um konkurrenzfähig zu bleiben. Telefunken ist ein gutes Beispiel, um zu sehen, wie das stufenlos weiterging. Da kommen wir auch wieder zum Hebbeltheater: Die Autorin Emine Sevgi Özdamar beschreibt in ihrem autobiografischen Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“, wie sie als junge türkische Arbeiterin in den 60er Jahren in Berlin in einer Produktionsstätte von Telefunken saß, gegenüber vom Hebbeltheater, und mit anderen jungen türkischen und griechischen Frauen Uhren baute. Diese Kontinuitäten, wenn man die wahrnimmt, dann fängt man an, anders über die Dinge nachzudenken.

■ „Wellenartillerie Telefunken“, Premiere am 5. Januar; weitere Termine: 6., 7., 9.–11. Januar, 20 Uhr, im HAU 3