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Archiv-Artikel

Ruandas Opfer klagen an

VON FRANÇOIS MISSER

Die ersten Anklagen lauteten auf Vergewaltigung. Vier ruandische Frauen, Überlebende des Völkermordes von 1994, reichten vor einem Jahr bei einem Gericht in Paris Klage gegen unbekannt ein, weil sie in einem Flüchtlingslager beim ruandischen Nyarushishi von französischen Soldaten missbraucht worden seien. Die Namen der Täter kannten sie nicht, und ihre eigenen wurden nicht publik. Die Geschichten von zweien der Klägerinnen sind in einem Buch erschienen: Demzufolge begingen die französischen Soldaten, die eigentlich die Überlebenden hätten schützen sollen, nicht nur Vergewaltigungen. Sie töteten außerdem in dem Lager einen Mann und verweigerten manchen Schutzsuchenden den Zutritt zum Lager, nachdem sie deren Personalausweise auf die Kennung „Hutu“ oder „Tutsi“ geprüft hätten. Die Zurückgewiesenen seien dann von Völkermordmilizen, den „Interahamwe“, getötet worden.

Inzwischen sind die Klagen an das französische Militärgericht „Tribunal des Armées“ weitergeleitet worden, und aus vier Klagen sind zehn geworden. Denn am 16. Februar erhoben sechs weitere Völkermordüberlebende aus Ruanda wegen „Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord“ durch französische Soldaten Klage gegen unbekannt. „Schreckliche Aussagen“ hätten sie dem Armeegericht unterbreitet, sagt Laure Coret von der Rechtshilfeorganisation Aircrige (Association International de Recherche sur les Crimes contre l’Humanité et les Génocides). Es gehe um „freien Zugang für Milizen in die von Frankreich geleiteten Flüchtlingslager, mysteriöses Verschwinden von Überlebenden und Abwurf von Leichen aus Hubschraubern“.

Bei den Vorwürfen geht es sämtlich um die französische Militärintervention „Opération Turquoise“ von Juni bis August 1994. Diese mit einem UN-Mandat versehene Militäroperation in der Schlussphase des Genozids wurde damals als Eingreifen zur Beendigung des Völkermordes dargestellt, der damals bereits hunderttausende Menschenleben gefordert hatte. Die Intervention bestand in der Einrichtung einer „Schutzzone“ im Südwesten Ruandas, in der nach offizieller französischer Darstellung tausende Menschenleben gerettet wurden, über die aber auch zahlreiche Täter des Völkermordes in das benachbarte Zaire (heute Kongo) entkamen.

Die neuen Klagen werfen jetzt den französischen Truppen sogar eine aktive Zusammenarbeit mit den für den Völkermord verantwortlichen Milizen in der „Schutzzone“ vor – von „materieller Unterstützung und Waffenlieferungen“ an die Hutu-Milizen bis zu eigenen Morden, sagen die Klägeranwälte Antoine Comte und William Bourdon. Ein Vorfall: Am 26. Juni hätten französische Soldaten tausende Tutsi, die sich in einem schwer zugänglichen Terrain bei Bisesero im Südwesten Ruandas versteckt gehalten hatten, dazu überredet, ihre Verstecke zu verlassen, und ihnen versprochen, zurückzukommen und sie in Sicherheit zu bringen. Vor ihrer Rückkehr seien dann aber Hutu-Milizen eingerückt und hätten die Menschen zu tausenden massakriert.

Die Rolle der Justiz

Die Klage sei Sache der Justiz, sagt Jean-François Bureau, Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums: „Bei diesem Dossier wird das Recht angewandt werden, wie bei allen anderen.“ Das Verfahren verlangt, das der Ankläger des Armeetribunals das Dossier an Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie übermittelt, die dann „eine Meinung“ über das weitere Vorgehen ausspricht. Danach kann das Tribunal entscheiden, ob die Klage zugelassen und ein Verfahren eröffnet wird.

Die Klagen sind also erst der Anfang eines langen Prozesses. Aircrige und andere französische Organisationen, die Frankreichs Rolle in Ruanda kritisieren und zu deren Aufklärung zum 10. Jahrestag des Völkermordes eine „Bürgerkommission“ ins Leben riefen, wollen sich in wenigen Monaten als Nebenkläger konstituieren, sagt Laure Coret. Sie hoffen, dass Frankreichs Ruandapolitik insgesamt untersucht wird.

„Vor, während und nach dem Völkermord war Frankreich immer Komplize der Täter“, sagt François-Xavier Verschave von der Organisation „Survie“. Frankreich war ein enger Verbündeter der Regierung von Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana, die den Genozid vorbereitete, und griff 1990–93 militärisch in Ruanda ein, um dieser Regierung gegen den Vormarsch der aus Uganda eingerückten Exiltutsi-Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) zu helfen. Diese französische Eingreiftruppe zog zwar 1993 zugunsten von UN-Blauhelmen ab, aber französische Militärausbilder waren auch danach noch in Ruanda stationiert und bildeten die damalige Regierungsarmee aus – aus ihr kamen wichtige Führer der Regierung, die nach der Ermordung von Präsident Habyarimana am 6. April 1994 die Macht ergriff und den systematischen Massenmord an Ruandas Tutsi einleitete. Und die Franzosen bildeten auch die Präsidialgarde aus – die selbst die Jugendmiliz „Interahamwe“ von Ruandas damaliger Regierungspartei trainierte. Sie war die zentrale Täterorganisation des Völkermordes.

Dies sei durchaus als „Beihilfe zum Genozid“ zu werten, meint der französische Jurist Gérard de la Pradelle. In seinem im Februar erschienenen Buch „Imprescriptible: L’implication française dans le génocide tutsi portée devant les tribunaux“ stehen die ersten Zeugenaussagen mutmaßlicher ruandischer Opfer französischer Vergewaltigungen. Schließlich waren es Nutznießer der französischen Ausbildung, die den Völkermord planten und vorbereiteten. Ähnliches gelte für Waffenlieferungen Frankreichs an Ruandas Armee nach dem Beginn der Massaker – während der „Operation Amaryllis“ zur Evakuierung weißer Ausländer aus Ruanda unter Zurücklassung schutzsuchender Ruander zwischen dem 7. und 14. April 1994, oder vom 25. bis 27. Mai im zairischen Goma an der Grenze zu Ruanda. De la Pradelle nennt auch die französische Evakuierung von Völkermordverantwortlichen aus Ruanda nach Frankreich während der „Operation Turquoise“, darunter mehrere Minister und ein Leiter des Hetzradios Mille Collines.

Aber damit daraus tatsächlich ein Gerichtsprozess entstehen kann, müssen einzelne Militärpersonen identifiziert werden, die wegen nicht verjährungsfähiger Taten – eben Völkermord oder Beihilfe dazu – vor Gericht gestellt werden können. Dies ist nicht einfach. Die ruandischen Zeugen wissen nicht, wie die von ihnen beschuldigten Soldaten heißen. Es ist höchstens möglich, herauszufinden, welche französischen Einheiten wann wo stationiert waren und wer sie führte. Für weitere Einzelheiten müsste die Militärhierarchie den Klägern helfen.

Die Hoffnung der Opfer

Die Klage zielt aber letztendlich nicht auf einzelne französische Soldaten, sondern auf Frankreichs politische Führung. Die Kläger hoffen, dass französische Militärangehörige vor Gericht aussagen, Befehle befolgt zu haben, und dass somit die strafrechtliche Verantwortung der damaligen Regierung in Paris angeführt werden kann. Schließlich wurde die für die Massaker verantwortliche Regierung Ruandas mitten während des Völkermordes im Elysée-Palast und im Sitz des französischen Premierministers empfangen. Nach Meinung de la Pradelles können wegen der Waffenlieferungen auch französische Banken, Waffenfirmen und Spediteure ins Visier der Justiz geraten.

Wegen der praktischen Probleme sind manche ruandischen Völkermordüberlebenden skeptisch gegenüber den Anklagen. Andere aber sind begeistert und wollen sich der Klage anschließen. „Für sie ist es wie eine Erlösung“, sagt eine französische Aktivistin, die Zeugenaussagen unter Überlebenden sammelt. „Ihnen geht es besser, sie haben wieder Hoffnung.“ Eine Sache ist gewiss: Frankreichs Rolle in Ruanda während des Völkermordes, lange unter den Teppich gekehrt, wird in Frankreich selbst jetzt erstmals kritisch thematisiert. Die Koalition des Schweigens, geboren aus der damals in Paris regierenden Koalition des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand mit dem konservativen Premierminister Edouard Balladur, ist gebrochen.