: Kosten einer Schocktherapie
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Die aktuellen Ausgaben von „Lettre International“ und „Sozial.Geschichte Online“ widmen sich klug und vorurteilslos der griechischen Krise
ANTONIOS LIAKOS
VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
Gegen dümmliche, von der Schuldenkrise beflügelte Vorurteile gegen Griechen meldeten sich kürzlich in dieser Zeitung drei DeutschgriechInnen zu Wort. Die Autoren stilisierten sich als Opfer einer Entrechtung, die so, wie sie gerade an den arbeitenden Griechen vollzogen werde, auch hier lebenden Migranten aus Griechenland bevorstehe (siehe taz vom 25. 11. 11). Dabei wäre diese Schwarzmalerei gar nicht nötig gewesen für die dann folgenden kritischen Anmerkungen zur Krise und ihren Ursachen – Anmerkungen, wie sie viel zu selten im hiesigen Blätterwald zu finden sind.
Wo die drei AutorInnen pauschal von „den Griechen“ und „den Deutschen“ sprachen, ließen sie außer acht, welche gesellschaftlichen Gruppen hier wie dort den Karren in den Dreck gefahren haben, wer von der Krise profitiert und wer die Zeche zahlt. Da passt es gut, dass zwei Zeitschriften in ihren aktuellen Ausgaben Schwerpunkte zum Thema Griechenland präsentieren und dabei die Verantwortlichen deutlich nennen: die Zeitschrift Sozial.Geschichte Online, die etwa dreimal im Jahr als PDF ins Netz gestellt wird, und die vierteljährlich in Papierform erscheinende deutsche Ausgabe von Lettre International.
Die Entwicklung Griechenlands seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 als europäischen Sonderfall unter beinahe durchgehender Regierung der sozialdemokratischen Pasok schildert der Historiker Karl Heinz Roth, Redakteur der Sozial.Geschichte Online und Mitbegründer ihrer verschiedenen Printvorgänger. Während nämlich andernorts seit den 80er Jahren der Sozialstaat sukzessive demontiert wurde und eine mit Niedriglohnpolitik einhergehende Deregulierung der Arbeitsverhältnisse einsetzte, habe Athen die Möglichkeit genutzt, den Zumutungen des globalisierten Markts mit Inflation zu begegnen. Dabei konnten wohlfahrtsstaatliche Standards sowie ein Lohnniveau eingeführt und erhalten werden, wie sie beispielsweise in Deutschland längst nicht mehr galten.
Glückliche Reeder
Erst 1993, als sich Griechenland dem Europäischen Währungssystem anschloss und auf einen Schlag die Kriterien des Maastricht-Vertrags einzuhalten hatte, habe der wirtschaftliche Abschwung begonnen. Nicht alle Branchen waren davon jedoch gleichermaßen betroffen. So ging es etwa den griechischen Reedereien und der ölverarbeitenden Industrie weiterhin prächtig. Es ist spannend zu lesen, wo das angehäufte Geld aus diesen Geschäften landete und wie und zu welchen Bedingungen es dann wiederum an den griechischen Staat verliehen wurde.
Was zurzeit in Griechenland geschieht, begreift Roth als „Schocktherapie“, eine Art nachholende Neoliberalisierung. In seinen Augen ist offen, ob dies gegen den Widerstand der Betroffenen gelingen werde. Die Mehrheit der griechischen Gesellschaft gebe „dem oft nicht weniger perspektivlos wirkenden sozialen Widerstand einer aktiven Minderheit – noch – keine Chance“.
Ebenfalls in Sozial.Geschichte Online hält Gregor Kritidis kräftig dagegen: Die tödlichen Schüsse auf den Schüler Alexandros Grigoropoulos hätten 2008 „eine Revolte aus(gelöst), die bis in den Januar 2009 hineinreichte und der alten Ordnung die Sterbeurkunde ausstellte“. Der Politikwissenschaftler schreibt, angesichts der anhaltenden Proteste habe sich die Vorform einer „politischen Doppelherrschaft etabliert“, mit dem durch Korruption diskreditierten Parlamentarismus einerseits und dem auf dem Athener Syntagma-Platz exekutierten basisdemokratischen Prinzip andererseits.
Auch der linke griechische Intellektuelle Antonios Liakos, der während der Junta mehrere Jahre inhaftiert war, hält es für unwahrscheinlich, dass der Konflikt ohne starke soziale Auseinandersetzungen und Klassenkonflikte gelöst werden kann: „Was gerade geschieht, ist eine gewaltige Verschiebung von Reichtümern in andere Hände“, antwortet er Frank Berberich, dem taz-Gründungsmitglied und Initiator der deutschen Ausgabe von Lettre International, im Interview. In einer beeindruckenden Auflistung nennt er zudem eine Unzahl von einheimischen Künstlern und in der Literatur, dem Theater oder im Film tätige Gruppen, die sich lautstark mit der derzeit verordneten „Lösung“ der Krise auseinandersetzen.
Richtig in Fahrt kommt das Interview dann, wenn Liakos Fragen allgemein nationalen Zuschnitts kontern kann. Da fallen dann Sätze wie: „Wir befinden uns in einer globalen Epoche, begreifen die Krise jedoch, als beurteilten wir den Nachbarn, der in seinem Garten Müll lagert. Eine sehr provinzielle Haltung.“ Und gefragt, wie er „die deutsche und die französische Vorgehensweise in der Krise beurteilt, antwortet Liakos: „Es gibt keine ‚deutsche‘ oder ‚französische‘ Vorgehensweise. Es gibt eine Vorgehensweise der Regierung, die Ansichten der Opposition, die populären Zeitungen und die Fernsehkanäle, die Meinungen der Intellektuellen.“ Gegen das Ressentiment, da besteht für Liakos kein Zweifel, kommt man nur an, indem man Ross und Reiter nennt.
■ duepublico.uni-duisburg-essen.de/go/sozial.geschichte-online ■ Lettre International, Nr. 95, Winter 2011, Berlin 2011