: Zwischen vielen Welten
Seit fünf Jahren lebt Senada in Berlin. Als Roma floh sie aus dem Kosovo. Heimat zu definieren, fällt ihr schwer. Auch hier leidet die 18-Jährige unter Vorurteilen: „Als Zigeuner bist du nicht so viel wert wie die anderen, egal, wie sehr du dich anpasst“
von JANA SITTNICK
Senada trägt einen roten Hut und rote Plastikohrringe, die dunklen Augen hat sie mit Lidstrich angemalt. Sie ist eine Roma. Zigeunerin. Erkannt als solche wird Senada selten: Oft würde man sie für eine Türkin oder Perserin halten, sagt sie. Nur wenn sie Serbisch spreche, dann wüssten die meisten Leute Bescheid. Denn SerbInnen mit dunklem Teint gebe es selten, viele von ihnen seien Roma. Diese Gleichsetzung hasst Senada: In der Schule habe ein Mädchen mal zu ihr gesagt, sie solle mit ihrer Freundin nicht „Zigeunerisch“ reden – „dabei war es Serbisch“. Senada hat der Türkin Prügel angeboten. Danach war Ruhe. Generell sei die Diskriminierung gegenüber Roma in Deutschland aber längst nicht so stark wie in Serbien, sagt die 18-Jährige. Hier werde sie in Ruhe gelassen. Immerhin.
Denn unter Vorurteilen muss auch sie leiden. Wenn Jungs sie ansprechen, in der Disco oder im Café, dann sei das oft sehr nett. Bis zu dem Punkt, wo es um die Herkunft geht. „Viele verdrehen dann die Augen und sind gleich weg.“ Senada sagt, dass sie das Verhalten nicht versteht und dass ihr das weh tut. „Als Zigeuner“, meint sie, „bist du nicht so viel wert wie die anderen, egal, wie sehr du dich anstrengst und anpasst.“
Senada Osmanovič ist in Jugoslawien geboren und aufgewachsen, wurde im letzten Kosovokrieg ausgebombt und lebt seit fünf Jahren mit ihrer Mutter in Deutschland. Ihr offizieller Status: Kriegsflüchtling. Ihre Zukunft: ungewiss. Zu Beginn hatten die beiden Frauen eine sechsmonatige Duldung, nun müssen sie jeden Monat aufs Neue ihren Antrag bei der Ausländerbehörde stellen. Bisher wurde den Anträgen immer stattgegeben. Die Auflagen der Behörde sind, Arbeit und Wohnung zu finden, um nicht länger von den Sozialbezügen zu leben. Dann steht auch die ersehnte Aufenthaltserlaubnis in Aussicht.
Doch Senadas Mutter findet ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit, nicht einmal schwarz. So leben beide von insgesamt 320 Euro Sozialhilfe im Monat. Senada wollte sich einen Putzjob bei Karstadt besorgen, „doch die wollen dafür einen erweiterten Hauptschulabschluss sehen“. Vor kurzem hat Senada die Hauptschule abgeschlossen, ab August holt sie die Realschule nach. Sie sagt, dass sie gern lernt, und dass sie etwas erreichen will. Sie hofft, dass die Ausbildung sie vor der Abschiebung schützt. Sicher sein kann sie nicht.
Mutter und Tochter teilen sich ein winziges Zimmer in einem Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt: 18 Quadratmeter. Hier steht nur das Nötigste: Couch, Tisch, Fernseher, Schrankwand, Kühlschrank, Küchenregale. Das Wohnheim ist ein anonymer 50er-Jahre-Bau, mit Fluren, die Verzweiflung atmen. Über das stumpfgelbe Linoleum schlurfen ab und an Männer in ausgebeulten Trainingshosen. Zum Kochen geht man in einen kahlen Raum, in dem zwei Herde wie einsame Inseln stehen, und sonst nichts: kein Tisch, kein Regal, kein Topf. Auch in den Dusch- und Toilettenräumen gibt es keine privaten Dinge. Spuren hinterlässt man hier nicht.
Wenn Senada am Wochenende in die Disco will, gibt es Streit. Die Mutter hat Angst, die Tochter ist genervt. Sie will einfach nur leben, Tradition hin oder her. Senada hat deutsche, serbische und türkische Freundinnen, sie spricht flüssig Deutsch, sie guckt deutsche Talkshows, Hochzeitsvideos von den Verwandten aus Serbien und MTV. Romanes, die Zigeunersprache, spricht sie nur noch in Bruchstücken. Sie gibt sich große Mühe mit der Anpassung. Nichts wünscht sie sich mehr als ein modernes, europäisches Leben, ein Leben ohne sichtbare ethnische Spuren, ohne Zwang, jungfräulich in die Ehe zu gehen, und ohne Folklore.
Senada wuchs in Niš auf, der drittgrößten serbischen Stadt. Sie lebte in einem Haus mit der Mutter und den zwei älteren Schwestern. Vater und Mutter trennten sich, als sie drei Jahre alt war. In der Schulklasse war sie die einzige „Zigeunerin“. „Ich sprach Serbisch, bin jeden Tag zur Schule gegangen und habe mich bemüht, so zu sein wie alle Kinder“, erinnert sie sich. Das Haus von Senadas Familie wurde bei einem Nato-Bombardement 1999 in Schutt und Asche gelegt. Als Zwölfjährige hat sie Bomber gesehen und Leichen mit abgefetzten Gliedmaßen. Heute träumt sie noch ab und zu davon.
Im Jahr 2000 kam sie nach Berlin. „Am Anfang war Deutschland nur das Haus für mich, in dem wir Unterschlupf fanden“, sagt Senada, „ich konnte die Sprache nicht, kannte niemanden, fühlte mich einsam. Deutsch hab ich aus dem Fernsehen gelernt, von Talkshows wie ,Arabella‘.“ Über ihre Ankunft im Westen spricht die junge Frau lieber als über ihr altes Leben. Heimat zu definieren, fällt ihr schwer: „Ich habe einen muslimisch-bosnischen Namen, die serbische Staatsbürgerschaft und Romablut. Für mich ist es sehr schwer zu sagen, wo meine Heimat ist. In Serbien bin ich geboren, da spreche ich meine zweite Muttersprache, da leben Verwandte von mir. Aber das Leben dort war nicht gut für uns Zigeuner.“
In Niš, sagt sie, sei es jetzt noch schlimmer als vor dem Krieg. Die Serben, selbst ohne Arbeit, hätten auch die Trödelmärkte übernommen, die einzige Einnahmequelle der Roma. Die Stimmung sei feindselig. Nach zehn Uhr abends gingen viele Roma nicht mehr aus dem Haus, aus Angst vor Übergriffen. „In Serbien erkennt man dich sofort als Zigeuner“, sagt Senada hart, „wegen der dunkleren Hautfarbe.“ Manchmal wünscht sie sich einen hellen Teint, blonde Haare und blaue Augen. In Deutschland fühle sie sich frei, trotz aller Probleme. Sie habe hier ein neues Leben: „Ich mache meine Sachen, ohne dass mich jemand fragt, was ich bin. Ich kann eine von vielen sein, und das ist schön.“
Dass sie in der anonymen Masse absorbiert wird, dass sie in Berlin optisch nicht als Roma auffällt, empfindet sie als große Erleichterung. Senada springt im Laufe des Gesprächs zwischen den Begriffen hin und her; mal nennt sie sich Roma, mal Zigeunerin. Die wortgenaue Identifikation, so scheint es, ist ihr nicht wichtig. Abgrenzen will sie sich anderswo, von den eigenen Leuten, „die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, die nur den ganzen Tag rumhängen und nicht Deutsch lernen. Das find ich nicht gut.“ Ein bisschen bemühen sollten die sich schon mit der Anpassung.
Einmal in der Woche probt die 18-Jährige alte Romatänze in einer Tanzgruppe. Da trifft sie Gleichaltrige aus Niš, das ist dann doch ein bisschen Heimat. Außerdem macht es Spaß. Tanzen liege ihr im Blut, sagt Senada und lacht. Eine Botschaft gibt es auch. „Die Tanzlehrer sagen, dass wir uns zeigen sollen und dass wir stolz sein sollen, Roma zu sein.“ Senada will sich ein „schönes Leben“ in Berlin aufbauen, mit Job, Auto, Mann und Kindern. Das ist das Wichtigste. Ihren „Stolz“ trainiert sie vielleicht später einmal.