: Inseln von Armut und Reichtum
Politisiert hat ihn der Blick durch die Kamera: Der Dokumentarfilmer Peter Overbeck liest in der Neuen Gesellschaft aus seinem jüngst edierten Buch „Gott ist Brasilianer“
Seit 1889, seitdem Brasilien Republik ist, steht auf der Nationalflagge „Ordem e progesso“ – Ordnung und Fortschritt. Der Satz stammt von dem Philosophen Auguste Comte (1798–1857), der eine neue Religion des Humanismus begründen wollte und dafür Katholizismus und Naturwissenschaft zu einer Theorie verschmolz, die dann als Positivismus berühmt wurde. Gesellschaft sollte demzufolge messbar sein, Comte forderte eine moralische Statistik und entwarf als Erster Prinzipien des „Social Engineering“.
Auf die brasilianische Gesellschaft hatte diese Theorie nachhaltigen Einfluss. Sie bestimmt bis heute, da der Sozialist Lula regiert und versucht, sein schwieriges Programm von „Fome Zero“ (Null Hunger) umzusetzen, die dortige Politik. Vor allem aberprägt Auguste Comtes „Social Engineering“ die Ideologie, will heißen: nicht nur unsere eigenen verklärten Vorstellungen von Karneval, Capoeira und Copacabana, sondern auch die Selbstwahrnehmung der brasilianischen Gesellschaft: Das positivistische System setzt sich als erweiterte Klassengesellschaft durch, teilt das Land in Enklaven, in Inseln von Armut und Reichtum und letztlich in ein Gefüge jenseits des Staates, das mitunter noch durch Aristokratie, Feudalstrukturen und paramilitärische Ordnung bestimmt ist.
Dieses Brasilien zeigen die Dokumentarfilme von Peter Overbeck, der jetzt in der Neuen Gesellschaft sein jüngst ediertes Buch „Gott ist Brasilianer. Erlebnisse eines Kameramanns“ vorstellt. Die Hausangestellten, die Landlosenbewegung und die Straßenkinder sind darin zu sehen. Begonnen hatte der 1927 in Duisburg geborene Overbeck als Werbefilmer. Im Jahr 1951 wanderte er mit seiner Familie nach Brasilien aus. Es war die Zeit, in der in Brasilien die Moderne begann: der neue Film, die Architektur Niemeyers, Brasilia, Bossa Nova.
Der Blick durch das Kameraobjektiv hat Overbeck dann politisiert. Er engagierte sich im Widerstand gegen die Militärregierung, floh nach Chile, Brasilien und Deutschland, dann wieder nach Brasilien und ging schließlich mit seiner Frau Ruth nach Israel, in den noch immer sozialistischen Prinzipien verpflichteten Kibbuz Megiddo. Über adies – sein Leben und seine Filme – hat Overbeck in seinem Buch geschrieben, das er an zwei Abenden in Hamburg vorstellt. Der Film „Sie zerstörten unsere Häuser und pflanzten Zuckerrohr“ von 1985, ausgezeichnet mit der Silbernen Taube des Filmfestivals Leipzig, ist an einem der Abende ebenfalls zu sehen. Roger Behrens
Peter Overbeck: „Gott ist Brasilianer. Erlebnisse eines Kameramanns.“ Hamburg 2004, 224 S., 19,90 Euro. Lesung: Mi, 13. 4., 19 Uhr, Neue Gesellschaft, Rothenbaumchaussee 19.Lesung und Film: „Sie zerstörten unsere Häuser und pflanzten Zuckerrohr“: Fr, 29. 4., 20 Uhr, Werkstatt 3