: „Nehmen, was die Gringos geben“
EL SALVADOR Dagoberto Gutiérrez über die Machtverhältnisse im Land 20 Jahre nach dem Friedensvertrag zwischen Guerilla und Regime
■ 67, war Mitglied der Verhandlungskommission der FMLN und Unterzeichner des Friedensvertrags mit Regierung und Armee. Er lehrt Verfassungsrecht an der Lutherischen Universität von El Salvador.
INTERVIEW CECIBEL ROMERO UND TONI KEPPELER
taz: Don Dagoberto, am 16. Januar 1992 haben Sie und neun weitere Comandantes der FMLN mit der Regierung und der Armee von El Salvador einen Friedensvertrag unterzeichnet. Die Guerilla sprach damals von einem Sieg. Wie beurteilen Sie das heute?
Dagoberto Gutiérrez: Noch immer werden genauso viele Menschen getötet wie damals. Nur haben wir keinen Bürgerkrieg mehr, sondern einen sozialen Krieg. Ein Bürgerkrieg hat Regeln, sogar juristische. Heute aber gibt es keine Fronten mehr, keine Chefs, kein politisches Projekt und also auch keine Verhandlungslösung mehr. Der Krieg kann dich an jeder Verkehrsampel erreichen.
Sie vergleichen die Opfer der Kriminalität mit denen des Bürgerkriegs?
Natürlich haben wir die rechte Militärdiktatur zerschlagen, die 1932 errichtet worden war. Damals war die Armee zur regierenden Klasse geworden, die die Interessen der Oligarchie als dominanter Klasse absicherte. Weil die Armee den Bürgerkrieg nicht gewinnen konnte, verlor sie ihre Qualität als regierende Klasse. Stattdessen gibt es heute eine neue: Technokraten, die Chefs der großen Unternehmen, die politischen Parteien. Die dominante Klasse aber ist immer noch dieselbe: die Oligarchie, die Kaffeebarone waren und sich in Banker verwandelt haben. Aber so klar habe ich das damals noch nicht gesehen.
Neu war immerhin, dass die FMLN legal als Partei auftreten konnte.
Die FMLN als Guerilla war eine Allianz aus fünf Organisationen, die ideologisch sehr unterschiedlich, zum Teil sogar feindselig gegeneinander waren. Aber wir wollten gemeinsam die Militärdiktatur stürzen. Mit dem Ende des Kriegs endete diese Übereinkunft. Eine neue, in der jede Organisation ihre eigene politische Identität definiert hätte, wurde nie gesucht. Die FMLN wurde einfach vom System verschluckt.
Warum gab es dann so viel Aufregung bei den Unternehmern, als die FMLN vor neun Jahren stärkste Parlamentsfraktion wurde und vor knapp drei Jahren mit Mauricio Funes die Präsidentschaftswahl gewann?
Die Oligarchie hat noch immer nicht verstanden, dass ein Regierungswechsel nicht gleichzeitig einen Systemwechsel bedeutet. Wenn sich ARENA und die FMLN an der Regierung abwechseln, verschieben sich ein paar Nuancen, sonst passiert nichts. Präsident Funes hat kein historisches Projekt und auch kein politisches. Er hat nur eine strategische Beziehung zu Washington. Er nimmt das, was die Gringos ihm geben.
Und was geben die Gringos El Salvador?
Washington garantiert die wirtschaftliche Stabilität des Landes. Mit anderen Worten: Emigration in die USA wurde zur Staatspolitik, die Überweisungen der ausgewanderten Arbeiter sichern unsere Wirtschaft. El Salvador wurde zum neoliberalen Labor eines Landes, das einzig und allein auf der Basis der Finanzwirtschaft und des Konsums funktioniert. Nennenswerte Produktion gibt es nicht, unsere Landwirtschaft wurde durch Lebensmittelimporte ersetzt. Selbst unsere nationale Währung ist verschwunden, wir bezahlen heute mit Dollars. Und die FMLN rückt immer mehr nach rechts.
Wie konnte das passieren?
Ganz einfach: Da wird ein guter Junge aus der Guerilla plötzlich zum Parlamentsabgeordneten und kommt ohne Vorwarnung in Alice’ Wunderland. Er hat ein riesiges Gehalt in einem Land der Hungerlöhne, er bekommt ein eigenes großes Auto, einen Fahrer, Leibwächter. Und er stellt fest: Er kann eine ganze Legislaturperiode im Parlament verbringen, ohne ein einziges Mal den Mund aufzutun. Abgeordneter zu sein ist dann nicht mehr ein Mittel, das man benutzt, um politische Ziele zu erreichen.
Sie haben die FMLN schon früh verlassen und arbeiten heute in einer Gruppierung, die sich „Revolutionäre Tendenz“ nennt. Wollen Sie noch immer die Diktatur des Proletariats in El Salvador?
Wir beobachten die Erfahrungen genau, die derzeit in Bolivien und Ecuador gemacht werden. Uns interessiert vor allem die protagonistische Rolle, die soziale Bewegungen dort beim Entstehen eines neuen Staats und neuer Verfassungen haben. Diese Verfassungen räumen mit der leidigen europäischen Erbschaft auf, nach der ein Staat auf der Repräsentation durch Parteien aufgebaut ist. Das funktioniert in Lateinamerika nicht. Wir sind deshalb für unabhängige Kandidaten bei Wahlen und für ein imperatives Mandat ihrer Wahlkreise. Wir verabschieden uns nicht von der Demokratie – wir brauchen eine andere.