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Archiv-Artikel

Kaltes Blut

Bei einem drohenden Konflikt mit Hunden aggressiv aufzutreten, ist falsch, und Davonlaufen hilft nichts. Fachleute raten zu intelligenter Deeskalation

Falsche Erziehung kann aus jedem Hund eine Wesenskrücke machen

Von Gernot Knödler

Nicht jedem ist es gegeben, so kaltblütig zu reagieren wie Barbara Schöning. Die Fachtierärztin für Verhaltenskunde und Präsidentin der Hamburger Tierärztekammer ließ ihr Bein, in das sich der Hund verbissen hatte, einfach stehen. „Ich möchte nicht wissen, wie es jetzt aussähe, wenn ich es weggezogen hätte“, sagt Schöning. „Bleiben Sie passiv und der intelligente Part“, rät auch Hundetrainer Stefan Begier. Der Königsweg im Umgang mit bedrohlich scheinenden Hunden sei Deeskalation.

Das bedeutet zuerst, nicht wegzulaufen. Wer flieht, steigert den Beutetrieb und hat dabei nicht einmal auf dem Fahrrad eine Chance, das Rennen zu gewinnen. Schöning, Begier und andere Fachleute raten, in natürlicher Haltung stehen zu bleiben, auf keinen Fall dem Hund in die Augen zu sehen und dann mit langsamen Bewegungen den Konfliktbereich zu verlassen.

Vom Versuch, das Tier einzuschüchtern, raten sie ab. Den Hund anzuschreien oder anzugreifen, sei viel zu gefährlich. „Das kann ich nicht empfehlen“, sagt Schöning, „es sei denn, man kennt sich gut aus.“ Das Risiko, einen solchen Kampf mit fatalen Folgen zu verlieren, sei groß und der Kampf bei normalen Hunden zudem unnötig. „Kein Hund beißt zum Selbstzweck“, sagt die Tierärztin. „Er beißt, wenn er denkt, dass es für ihn das Beste ist, um seine Haut zu retten.“

Sich mit Gewalt allein gegen große Tiere wie Pitbills oder Schäferhunde durchzusetzen, hält Begier für unmöglich. „Sie können einem rein aggressiven Tier nur mit Hilfe Dritter begegnen“, sagt der Trainer, der auch Postboten beibringt, wie sie schadlos an Hunden vorbeikommen. Hals, Bauch und Kopf soll der Angegriffene notfalls mit den Armen schützen.

Ob ein Hund dem Wesen nach gefährlich ist, hängt nicht von der Rasse ab, sondern von der Erziehung: „Sie können aus jedem Hund eine Wesenskrücke machen“, sagt Begier, der es für angemessen hält, von Haltern etwa einen Hundeführerschein zu verlangen. „Ich erlebe bei vielen Hundebesitzern, dass die überhaupt nicht einschätzen können, was ihr Hund ihnen gerade sagt“, berichtet Schöning. Schwanzwedeln zum Beispiel sei kein Zeichen von guter Laune, sondern von Erregung. Knurren, Nackenhaare aufstellen und Zähne fletschen dagegen sind in der Regel Zeichen einer schlechten Stimmung, bedeuten aber nicht, dass der Hund gleich angreift.

Doch selbst bei bester Ausbildung, wenn der Hund aufs Wort gehorcht, wenn er im Spiel gefordert wird und genügend Auslauf hat, bleibt ein Risiko. „Ich vertraue meinen Hunden zu 99 Prozent“, sagt Begier, der fünf Schäferhunde zu Hause hat. „Das übrige eine Prozent hat mir verboten, die Hunde alleine mit meinen Kindern zu lassen.“ Kinder reagieren impulsiv, sie wollen den Hund umarmen, grabschen ihm ins Gesicht, laufen plötzlich auf ihn zu oder von ihm weg.

Auch Schäferhund „Krümel“, der am Samstag in Rahlstedt die siebenjährige Laury gebissen hat (taz berichtete), sei im normalen Rahmen gehorsam gewesen, erzählt Schöning, die das Tier vom Hundeübungsplatz kennt. Weil das Kind ihm plötzlich zu nahe kam, habe er danach geschnappt, wie er es bei Artgenossen auch getan hätte. „Der hat sich selbst gewundert, dass die so eine dünne Haut hat“, vermutet Wolfgang Poggendorf vom Hamburger Tierschutzverein. „Wenn der mit Beschädigungsabsicht gebissen hätte, hätte das Gesicht vermutlich noch schlimmer ausgesehen“, glaubt Schöning.

Begier zieht aus diesem Risiko die Konsequenz, dass er seine Hunde in der Öffentlichkeit stets angeleint führt. Mit einem Leinenzwang, wie er zurzeit vielfach gefordert wird, hat er ebensowenig ein Problem wie Poggendorf – vorausgesetzt, es gibt genügend Auslaufflächen.