Zielschießen auf Milans Torhüter Dida

Die vom drohenden Champions-League-Aus gegen den Stadtrivalen AC frustrierten Fans von Inter Mailand sorgen für einen weiteren schweren Eklat in Italiens gewaltgeplagtem Fußball und provozieren den Abbruch des Spiels in San Siro

ROM taz ■ Es war ein regelrechtes Zielschießen: Flaschen, Regenschirme, Münzen, Feuerwerkskörper prasselten auf den Rasen, bis schließlich eine Leuchtrakete den brasilianischen Keeper von AC Mailand an der rechten Schulter traf. Dida ging zu Boden – und das Stadtderby AC gegen Inter Mailand im Viertelfinale der Champions League war zu Ende.

Mit dem Spielabbruch vom Dienstagabend im Mailänder San-Siro-Stadion hat die Gewalt der italienischen Fankurven eine neue Eskalationsstufe erreicht. 70 Minuten war das Spiel in geordneten Bahnen gelaufen, auch wenn der Kaiserslauterner Schiedsrichter Markus Merk sich bei den Inter-Fans schnell als Bösewicht qualifizierte, weil er Mailands Star Andrej Schewtschenko nach einem Kopfstoß nicht vom Platz gestellt hatte. Mit scheinbarer Fassung hatten die Hools in der Inter-Nordkurve auch das Führungstor Schewtschenkos in der 30. Minute hingenommen, auch wenn Inter nach der 0:2-Hinspielniederlage damit so gut wie alle Hoffnungen begraben konnte. Realistische Hoffnungen auf ein 4:1 gab es jedenfalls nicht mehr in der 71. Minute, als Esteban Cambiasso für Inter ein Tor schoss, das Schiedsrichter Merk jedoch sofort annullierte, weil AC-Torwart Dida durch einen gegnerischen Spieler behindert worden war.

Die Inter-Fans sahen es anders, auch wenn es um nichts mehr ging, jedenfalls nicht ums Weiterkommen in der Champions-League. Hunderte von Hooligans begannen ihr Bombardement der AC-Spielhälfte, bis sie schließlich Torwart Dida getroffen hatten. Wie üblich in den italienischen Stadien, griff die Polizei auf den Rängen nicht ein – für die Ordnungshüter sind die Blocks der organisierten Fanclubs praktisch No-Go-Areas. Schiedsrichter Markus Merk hätte schon zu diesem Zeitpunkt das Spiel abbrechen können, doch zunächst verordnete er nur eine Unterbrechung und schickte die Spieler für 20 Minuten in die Kabine. Während Feuerwehrleute die Wurfgeschosse vom Rasen sammelten, kam über Lautsprecher immer wieder die Durchsage, bei Wiederholung der Wurfattacken werde das Spiel endgültig abgebrochen. Kaum aber war die Partie wieder angepfiffen, ging schon die erste Feuerwerksrakete nieder – und in San Siro war Schluss.

Wirklich auf Distanz zu den entfesselten Hooligans ging auf Inter-Seite nur der Vereins-Inhaber, der im Mineralölgeschäft tätige Industrielle Massimo Moratti; er hatte das Stadion schon bei Beginn der Ausschreitungen konsterniert verlassen. Inter-Trainer Roberto Mancini und diverse Spieler seines Teams dagegen regten sich vor allem über die angebliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf; Mancini habe, berichten italienische Medien, im Moment des Abbruchs Merk zugerufen, „das ist deine Schuld“, während Inter-Spieler Córdoba den Schiedsrichter mit ironischem Beifall Richtung Kabine begleitete und Marco Materazzi erklärte, er rechtfertige die Fans nicht, aber er verstehe sie.

Damit stehen die Inter-Spieler ziemlich allein. Voraussichtlich morgen wird die Uefa ihre Sanktionen gegen Inter Mailand beschließen; selbst ein Ausschluss aus den europäischen Wettbewerben für ein Jahr gilt als möglich. Krisensitzungen sind auch in Rom angesetzt; nach mehreren schweren Zwischenfällen am Wochenende – ihr Gipfel waren die Nazi-Fahnen und -Spruchbänder im Lazio-Block sowie die Schlägereien zwischen Livorno-Fans und der Polizei am Rande des Erstliga-Spiels Lazio Rom – Livorno – hatte Innenminister Giuseppe Pisanu am Montag hartes Durchgreifen angekündigt. Selbst die Schließung „riskanter“ Stadien schloss er diesmal nicht aus. Am Dienstagabend antworteten die Inter-Fans auf ihre Weise.

Ihre Antwort dürfte auch die Hoffnungen Italiens auf die Austragung der EM 2012 zunichte machen. Denn der Abbruch vom Dienstag war nicht der erste europaweit wahrgenommene Eklat im italienischen Fußball. Schon zum Auftakt der Champions-League-Saison war im September die Partie AS Rom–Dynamo Kiew abgebrochen worden, weil eine römischer Fan dem mittlerweile zurückgetretenen Schiedsrichter Anders Frisk ein Feuerzeug an den Kopf geworfen hatte. Nur wenige Monate zuvor hatte es beim Derby AS gegen Lazio Rom einen Spielabbruch gegeben, nachdem hunderte Fans aufs Spielfeld geströmt waren.

MICHAEL BRAUN