PROGRAMMARBEIT: DIE UNFREIWILLIGE SELBSTIRONIE DER SPD
: Macht und Wahrheit

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gibt sich derzeit ein neues Programm. Erstmalig formuliert die SPD ein solches Grundsatzdokument, während sie die Regierung stellt. Groß waren daher die Bedenken der Programm-Häuptlinge, namentlich des Partei-Vizechefs Wolfgang Thierse: Der Drang zu Wahrheit und Ethik könnte mit dem Drang zum Weiterregieren kollidieren.

Nach Franz Münteferings gestriger programmatischer Rede darf Thierse sich bescheinigen: Befürchtung voll erfüllt, der Parteichef missbraucht das Programm für den Wahlkampf. Allzu wohlfeil betten sich Münteferings Kapitalismuskritik zusammen mit des Kanzlers jüngster Ankündigung, „gewissenlose Ausbeuter an den Kanthaken“ zu nehmen, in den Versuch ein, Nordrhein-Westfalen für die SPD zu retten. So erlebt das Publikum eine Darbietung unfreiwilliger Ironie: Die Partei überführt sich selbst der Heuchelei.

Müntefering kritisiert, dass durch die internationale Strategie der Profitmaximierung nicht nur die Demokratie gefährdet werde, sondern auch der Staat, dem manche, deren Namen Müntefering nicht nennt, den Hungertod wünschten. Dies sagt der Chef derselben Partei, die gerade der Union ein „Ja“ zu einer weiteren Senkung der Unternehmenssteuern abzuringen versucht – wohl wissend, dass solch eine Steuersenkung den Staat noch mehr hungern lassen wird. Ohnehin nützen sämtliche rot-grüne Steuer- und Sozialreformen den Unternehmen und Hocheinkommensbeziehern mehr als den Kleinverdienern und Arbeitslosen. Perfekt passt in dieses Konzept übrigens auch die familienpolitische Idee, den Wohlbestallten noch Steuergeld zum Kinderkriegen hinterherzuwerfen – das Geld, das den anderen fehlen wird.

Nun gilt das Prinzip „für die Großen regieren, für die Kleinen reden“ zwar als sozialdemokratisches Regierungsgeheimnis – etwa auch in Tony Blairs Großbritannien. Doch funktioniert dort wenigstens das konservative Regierungsprinzip, „für die Großen so gut regieren, dass für die Kleinen auch etwas abfällt“. Die SPD hat noch nicht einmal das geschafft. Sicherlich wird sie mit einem schönen neuen Programm in die Oppositionszeit ziehen. ULRIKE WINKELMANN