: Autsch!
BISSWUNDEN In Niedersachsen häufen sich die Hundeattacken. In ihnen tritt die dunkle Seite des treuen Begleiters zutage. Dennoch riet bereits Lessing von Selbstjustiz ab
VON MICHAEL QUASTHOFF
Wann genau der Mensch auf den Hund kam, weiß man nicht genau. Es ist ziemlich lange her. Seitdem führt das Tier an unserer Seite sein metaphernreiches „Hundeleben“ (Johann Peter Hebel). Das heißt er wird als „treuer Hund“ (Gottfried Keller), „Schoßhündchen“ (E.T.A. Hoffmann) oder „vergnügter Hund“ (Wilhelm Raabe) allseits geschätzt und gehätschelt, als „armer“ (J. W. v. Goethe) und „geprügelter Hund“ (Vladimir Nabokov) entsprechend bedauert. Das ist die eine Seite.
Die andere, trotz aller Domestizierungserfolge nie ganz verschwundene wölfische Sphäre verkörpern hingegen die „tollwütigen“, „nichtswürdigen“ und „liederlichen“ Hunde“ (H. v. Kleist), der „ungläubige Hund“ (Karl May), der „räudige Hund“ (Heinrich Heine) und der „verräterische Hund“ (C. D. Grabbe). Selbst Hundenarren fürchten die berüchtigte „Hundswut“ (Jean Paul) des „bissigen“ (Bonaventura) Canis lupus familiaris, wobei der Briefträger schon immer wusste, dass man „schlafende Hunde“ (F. Nietzsche) besser nicht wecken sollte.
In Niedersachsen ist diese heikle Abart nun offenbar endgültig zur „intoleranten Bestie“ (G. C. Lichtenberg) mutiert. Wie dpa meldete, müssen sich die Ordnungsämter zwischen Emden und Göttingen immer häufiger mit verhaltensauffälligen Haushunden herumschlagen, die unschuldige Passanten, Artgenossen, aber auch Herrchen und Frauchen aus heiterem Himmel mit Beißattacken überziehen.
In Osnabrück verzeichnete man im Jahr 2009 schon 72 Fälle, die nur unter Verhängung von drakonischen Maßnahmen wie Leinenzwang (42 Mal), Maulkorberlass (28 Mal) und zwei Überweisung in den Hundezwinger einzudämmen waren.
In Braunschweig wurde ein American Stafford Terrier inhaftiert. 36 Hunde mussten angriffslustig klassifiziert und wie in Osnabrück ordnungspolitisch behandelt werden. Die Halter erhielten Abmahnungen.
Das Ordnungsamt von Cuxhaven spezifiziert das epidemische Anschwellen der Hundswut auf zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allerdings habe man das alles kommen sehen, sagte eine Behördensprecherin. Denn das Problem liege „vielfach am anderen am Ende der Leine“. Zum Beispiel wird der so genannte „Wesenstest“, mit dem Hundebesitzer die soziale Kompetenz der Vierbeiner überprüfen können, vielfach ignoriert. „Vielen Haltern ist der Test zu teuer. Dann wird er unterlassen. Wir kassieren den Hund ein.“
Während in Hannover, Lüneburg und Uelzen noch keine Steigerung der hündischen Aggressionsraten zu verzeichnen sind, ging es in Emden bei 36 Attacken so hoch her, dass Zwangsverwahrung nicht mehr half. Vier Hunde wurden per Giftspritze exekutiert. „Ein Hund bleibt eben ein Tier, man kann ihn nicht einschätzen“, kommentierte ein Stadtsprecher die Hinrichtung.
Experten fordern betroffene Zweibeiner auf, von Selbstjustiz abzusehen. Sonst könnte es ihnen ergehen wie dem Jähzornigen, von dem Gotthold Ephraim Lessing erzählt. Der hatte einen Hund erschlagen, der ihm zuvor eine üble Bisswunde zugefügt hatte und ging darauf zum Arzt: „Hier weiß ich kein besseres Mittel, sagte der Empiricus, als daß man ein Stücke Brot in die Wunde tauche, und es dem Hunde zu fressen gebe. Hilft diese sympathetische Kur nicht, so – hier zuckte der Arzt die Achsel. Unglücklicher Jachzorn! rief der Mann; sie kann nicht helfen, denn ich habe den Hund erschlagen.“